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Vorträge & Ansprachen

125 Jahre Raiffeisenkassen in Südtirol - Erfolgsmodell mit Tradition und Zukunft"

"125 Jahre Raiffeisenkassen in Südtirol - Erfolgsmodell mit Tradition und Zukunft"Gedanken zur Bedeutung der Genossenschaftsarbeit Sehr geehrte Festversammlung,sehr geehrter Herr Landeshauptmann,verehrte Damen und Herren! Wenn der Herr Generaldirektor Dr. Paul Gasser mich heute ein­geladen hat, bei dieser Festversammlung das Wort zu ergreifen, dann hat er es ganz bestimmt nicht deswegen getan, weil ich ein Fachmann für Wirtschaft und für das Bankenwesen wäre, sondern er hat mich eingeladen als Bischof, um Ihnen einige Über­legungen zur Genossenschaftsarbeit im Lichte der Soziallehre der Katholischen Kirche vorzutragen. Also nicht ein Fachmann spricht jetzt zu Ihnen, den Fach­leuten, sondern einer, der versucht, von der christlichen Botschaft und vom christlichen Menschen­bild her, auf Ihre Arbeit und Ihre Kompetenz zu schauen und der Ihnen einige fragmentarische Überlegungen zur Bedeutung der Genossenschaftsarbeit anbieten möchte. Rerum novarum, die Sozialenzyklika von Papst Leo XIII., die am 15. Mai 1891 veröffentlicht wurde, gab die Initialzündung zur Soziallehre der Kirche. Als positive Reaktion auf dieses päpst­liche Lehrschreiben entstanden viele christlich-soziale Bewegungen, die das Genossen­schaftswesen als besonders geeignetes Instrument zur Linderung von Not und zur konkreten Hilfe für Menschen förderten. Durch Rerum novarum kamen sich in der Frage der Genossen­schafts­arbeit auch die sonst streng getrennten christlichen Konfessionen näher. So konnten zum Beispiel die Ideen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der ein überzeugter evangelischer Christ war, von Katholiken geteilt und übernommen werden. Nicht zuletzt Priester haben solche Genossenschaften gegründet. In kürzester Zeit ent­standen allein auf dem Gebiet des heutigen Südtirol 45 Raiffeisen­kassen, angefangen bei der ersten Raiffeisenkasse in Rina / Welschellen, die unter der Leitung des Pfarrers Josef Tasser als erste im kaiserlich-königlichen Kreis­gericht in Bozen eingetragen wurde. 1. Raiffeisen und die Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität Zwei Prinzipien liegen den Raiffeisen- Genossenschaften zu Grunde: das Prinzip der Solidarität und das Prinzip der Subsidiarität. "Solidarität" kann mit dem Motto umschrieben werden: "Alle für einen, einer für alle". Dahinter stehen die zum Teil schmerzlichen und erniedrigenden Erfahrungen der Arbeiterbewegung des 19. Jahr­hunderts: Man muss zusammenhalten, um etwas zu erreichen! Man ist "in solidum" füreinander verantwortlich. Und nur "in solidum" können wir nicht übergangen werden. Manchmal scheint es mir, als ob heute der alte Kampf zwischen den Werten "Freiheit" und "Solidarität" neu aufgelegt würde. Die Auseinandersetzung wird zunehmend härter, nicht zuletzt weil die finanziellen Mittel geringer werden. Arbeitslose und Empfänger von Fürsorgeleistungen werden europaweit nicht selten pauschal als Sozialschmarotzer abgestempelt, Gruppen gegeneinander aus­gespielt - zum Beispiel Ausländer gegen Einheimische. Slogans wie: "Wir zuerst" halte ich für äußerst gefährlich – und auf jeden Fall nicht vereinbar mit dem christlichen Menschenbild. Solidarität bezieht ihre Kraft nicht zuletzt aus der Einsicht, dass die Menschen nicht als isolierte Individuen leben, sondern aufeinander angewiesen sind. Deshalb hat Solidarität immer auch eine strukturelle Dimension. Es braucht Regeln, mit denen die politisch Verantwort­lichen Solidarität innerhalb und zwischen Einzelnen und Gruppen und zwischen den Generationen organisieren und gestalten. Das Solidaritätsprinzip ist also zum einen eine Korrektur gegen­über dem isolierten Individuum, das von der liberalistischen Wirtschaft vorausgesetzt wird, zum anderen auch gegenüber einer von oben her verordneten Solidarität, wobei der Einzelne im Volk oder in der sozialen Klasse auf­geht. Neben dem Grundbedürfnis der Selbst- und Arterhaltung hat der Mensch auch das Be­dürfnis bzw. die innere Neigung, für andere Sorge zu tragen. Dabei müssen es wohl die Er­fahrungen in der Familie und in kleinen überschaubaren Gemein­schaften sein, in denen diese Soli­darität wachsen und eingeübt werden kann. In seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" schreibt Papst Franziskus: Solidarität ist nicht ein Auftrag für einige wenige, sondern meint den Auftrag, "die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben und die ganzheitliche Entwicklung der Armen zu fördern, als auch die einfachsten und täglichen Gesten der Solidarität angesichts des ganz konkreten Elends, dem wir begegnen. Das Wort 'Solidarität' hat sich ein wenig abgenutzt und wird manchmal falsch interpretiert, doch es bezeichnet viel mehr als einige gelegentliche großherzige Taten. Es erfordert, eine neue Mentalität zu schaffen, die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt" (EG 188). Unsere moderne Gesellschaft ist ohne Zweifel von einer starken Individualisierungstendenz gekennzeichnet. Auf der anderen Seite sind aber gerade in den vielen Vereinen und regierungs­unabhängigen Organisationen (NGO), eben auch in den Genossenschaften, sehr viele Formen der Solidarität entstan­den. Ein Staat, aber auch ein Land oder eine Provinz wie Südtirol, leben und stehen mit der Solidarität der eigenen Bürger und Bürgerinnen: Sie können diese nicht her­stellen, sondern müssen dankbar darauf zurückgreifen. Sie sollten sich dessen auch stets bewusst sein und entsprechende Förderungen für den Erziehungs­bereich, für den Bereich der Kultur, der Bildung und der Weiter­bildung zur Verfügung stellen. Die Wer­teerziehung, die wir so sehr brauchen, wird aber von den Familien und auch von religiösen und ideellen Gemeinschaf­ten geleistet. Deswegen kommt die Stärkung und Förderung der Familie der ganzen Gesellschaft und auch der Wirtschaft zugute. Im ganzen Bereich der Werteerziehung kommt den modernen Massenmedien eine große Rolle und Verantwortung zu: Sie können bilden, aber auch verbilden, aufbauen, aber auch zerstören. Es muss aber noch ein zweites Prinzip hinzukommen, nämlich das Subsidiaritätsprinzip.Dieses Prinzip ist eine Folge des Vorrangs der Person vor den Strukturen und wurde von Papst Pius XI. in seiner Enzyklika "Quadragesimo anno" von 1931 zum ersten Mal ausführlich formuliert. Man kann dieses Prinzip als ethisches Korrektiv zu den totalitären Systemen, insbesondere des Nationalsozialismus und des Kommunismus im 20. Jahrhundert, verstehen. Ich möchte dieses Prinzip so formulieren: Mut zur Eigen­verantwortung! "Vorfahrt für Eigenverantwortung", heißt es in einem gemeinsamen Sozialwort der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das heißt: Jede Struktur muss zuerst einmal das leisten, was sie leisten kann und wofür sie kompetent ist, - angefangen von der Familie, bis zu den Verbänden und Gemeinden, und sie hat dafür einen Anspruch auf Hilfe, auf ein "subsidium", weil sie ungemein kostengünstiger arbeitet. Das Prinzip ist nicht vertikal, in der Richtung von oben nach unten, zu verstehen. Es geht nicht um das Delegieren von oben nach unten, indem Kompetenzen vom Staat auf niedrigere Strukturen übertragen werden sollen; es geht auch nicht darum, dass von oben her die Bedingungen festgelegt werden, oder dass der Staat mit privaten Organisationen Konventionen abschließt, damit diese kostengünstiger gewisse Leistungen erbringen. Subsidiarität meint eine Richtung von unten nach oben, oder auch horizontal, eine Zusammenarbeit zwischen Personen und Institutionen gleicher Würde. Dies hat Konsequenzen für die Wirtschaft. So ist es z. B. eine primäre Aufgabe der Wirtschaftstreibenden selbst, die Arbeits­losigkeit zu bekämpfen bzw. Arbeit zu schaffen. Sie haben aber ein Recht auf verlässliche politische Rahmenbedingungen, auf gewisse korrigierende Fördermaßnahmen, damit sie ihrer Aufgabe, durch Investitionen und Innovationen Arbeitsplätze zu schaffen, nach­kommen können. Auf die Globalisierung bezogen heißt der Gedanke der Subsidiarität, dass es neben der weltweiten Vernetzung auch eine Stärkung regionaler Integrationsprozesse braucht. Es braucht Zwischen­institutionen. So braucht Europa die einzelnen Regionen, die Bildung von länderübergreifenden Europaregionen, bis hinunter zu den Gemeinden. Dabei geht es nicht nur um verschiedene Ebenen öffent­licher Institutionen, sondern auch um alle Formen eines Zusammen­wirkens in Vereinen, Verbänden, Initiativen, Bürgerbewegungen - eben um all das, was wir unter Zivilgesellschaft verstehen. 2. Die Aussagen zur Wirtschaft in der Enzyklika "Caritas in Veritate" Lassen Sie mich noch einen Blick werfen auf die Sozialenzyklika "Caritas in Veritate" von Papst Benedikt XVI. Diese Enzyklika wagt zu behaupten: "Das Wirtschaftsleben kann nicht alle gesellschaftlichen Probleme durch die schlichte Ausbreitung des Geschäftsdenkens überwinden. Es soll auf das Erlangen des Gemein­wohls ausgerichtet werden, für das auch und vor allem die politische Gemeinschaft sorgen muss. Es darf daher nicht vergessen werden, dass die Trennung zwischen der Wirtschaftstätigkeit, der die Aufgabe der Schaffung des Reichtums zukäme, und der Politik, die sich mittels Umverteilung um die Gerechtigkeit zu kümmern habe, schwere Störungen verursacht". So gilt für diese Sozialenzyklika: "Der Bereich der Wirtschaft ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial. Er gehört zum Tun des Menschen und muss, gerade weil er menschlich ist, nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutionalisiert werden …Vor uns liegt eine große Heraus­forderung, die von den Problemen der Entwicklung in dieser Zeit der Globalisierung hervorgebracht und durch die Wirtschafts- und Finanzkrise noch weiter erschwert wurde: Wir müssen in unserem Denken und Handeln nicht nur zeigen, dass die traditionellen sozial­ethischen Prinzipien wie die Transparenz, die Ehrlichkeit und die Verantwortung nicht vernachlässigt oder geschwächt werden dürfen, sondern auch, dass in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der Brüderlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben Platz haben können und müssen. Das ist ein Erfordernis des Menschen in unserer jetzigen Zeit, aber auch ein Erfordernis des wirtschaft­lichen Denkens selbst" (CV 36). Wie weit sind wir noch davon entfernt! Bedenkenswert halte ich auch die folgenden Überlegungen und Mahnungen von Papst Benedikt XVI.: "In den vergangenen Jahren war eine Zunahme einer kosmopolitischen Klasse von Managern zu beobachten, die sich oft nur nach den Anweisungen der Haupt­aktionäre richten, bei denen es sich normalerweise um anonyme Fonds handelt, die defacto den Verdienst der Manager bestimmen … Man muss vermeiden, dass die finanziellen Ressourcen zur Spekulation verwendet werden und man der Versuchung nachgibt, nur einen kurz­fristigen Gewinn zu suchen und nicht auch den langfristigen Bestand des Unternehmens, den Nutzen der Investition für die Realwirtschaft und die Sorge für die angemessene und gelegene Förderung von wirt­schaftlichen Initiativen in Entwicklungsländern" (CV 40). Insofern wäre es wichtig, dass auf Weltebene ungedeckte Leerkäufe und Leer­verkäufe von Wertpapieren verboten würden! Aus den kleinen Räumen, in denen der Raiffeisenverband wirkt, soll und kann ein Hoffnungszeichen ausgehen. Vor allem in den so genannten Entwicklungsländern braucht es den Aufbau von Genossenschaften. Eine Entwicklung, die kleine Wirtschafts­kreisläufe fördert und auch auf die kulturellen Ressourcen der Völker achtet, ist ein Gegenpol zur Flucht in die Migration, die ein erschreckendes Zeichen unserer Tage geworden ist, und letztlich ein Beitrag für den globalen Frieden. 3. Anliegen, die gültig bleiben Solidarität und Subsidiarität mögen die verbindlichen und verbindenden Leitideen für das Genossenschaftswesen bleiben! Und ebenso: Menschliche Würde vor jeder Form der Produktivität. Menschliche Freiheit, Lohngerechtigkeit, Recht auf Mitbestimmung und Mitsprache der Mitarbeiter und Mit­arbeiterinnen; die Gesetze des Marktes, der Wirtschaftlichkeit, der Effizienz, der Profitsteigerung, die sicher auch legitim sind, dürfen nicht die einzigen Kriterien sein und vor allem sich nicht verselbständigen oder absolut gesetzt werden. Das Kapital muss im Dienst der Menschen stehen und nicht umgekehrt. Die christlichen Wurzeln und Werte haben eine große, verbindende Bedeutung - für die Gesellschaft, die Wirtschaft und das Zusammen­leben der Menschen, nicht zuletzt auch in unserem Land mit seiner konkreten Geschichte und mit dem historischen Auftrag zur Brücken­funktion zwischen unterschiedlichen Sprach­gruppen und Kultur­räumen. Vom christlichen Gottes- und Menschenverständnis her wage ich mir und Ihnen allen ans Herz zu legen: Das Sein des Menschen kommt vor dem Tun, vor dem Leisten und vor dem Haben des Menschen! Haben wir eine große Ehrfurcht vor dem Menschen und seiner Würde! Seien wir kritisch einer Mentalität gegenüber, die sich leiten lässt vom unbarmherzigen Druck: immer mehr, immer schneller, immer weiter, immer höher, immer reicher! Und vergessen wir nicht auf allen Ebenen des Marktes, des Staates, unseres Landes und der gesamten Zivilgesellschaft: Nicht vom Brot allein lebt der Mensch! + Ivo Muser, Bischof