Liebe Schwestern und Brüder in unserer Diözese Bozen – Brixen!
Am 6. August 1964, Fest der Verklärung des Herrn, wurde unsere heutige Diözese Bozen-Brixen von Papst Paul VI. errichtet. Gleichzeitig wurde Innsbruck zur selbständigen Diözese erhoben. Seither sind 60 Jahre vergangen. Ein Grund zur Erinnerung und zum Innehalten.
Tradition und Wandel
Gleich dreimal im Laufe ihrer langen Geschichte hat unsere Diözese ihren Namen gewechselt: Säben, Brixen, Bozen - Brixen. Schon allein dieser Umstand zeigt, wie sehr Aufbruch, Umbruch, Veränderung, Tradition und Wandel, Kontinuität und Diskontinuität den Weg der Kirche durch die Geschichte immer prägen werden. Wer die Geschichte der Kirche, auch unserer Ortskirche, kennt und sich ihr stellt, wird sehr vorsichtig mit schnellen Urteilen und auch mit der Behauptung: „So war es immer".
Wandel und Veränderung sind nicht das Schicksal der Kirche, das auch sie als geschichtliche Größe zu erleiden hat. Wandel und Veränderung gehören zum Wesen der Kirche. Unser Gott ist ein Gott der Geschichte. Er ist mit seinen Menschen, und damit mit uns, seiner Kirche, immer auf dem Weg. Christen und Christinnen glauben an einen Gott, der in Jesus Christus selbst „Geschichte" geworden ist. Deswegen ist unsere menschliche Geschichte nicht einfach ein anonymes, blindes, banales und oft sogar widersprüchliches und grausames Aufeinanderfolgen von Ereignissen, sondern der Ort, an dem Menschen Gott begegnen können.
Wurzel und Auftrag
Auf die Frage, wer er ist, antwortet Gott dem Mose: „Ich bin der HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs" (Ex 3, 15). Mit anderen Worten: Ich bin ein Gott der Generationen! An Gott zu glauben, beginnt nie im luftleeren Raum und fängt nie bei null an. Wir sind hineingestellt in eine Geschichte – eine Segensgeschichte mit allem Versagen, mit allen Krisen und Nächten und auch mit der Zusage des Lebens und des Heils. Zum Glauben gehören gemeinsame Wurzeln, gehört die lebendige Gemeinschaft in der Gegenwart und die Weitergabe dieses Glaubens an kommende Generationen. Dabei denke ich besonders an die Kinder und die jungen Menschen, die den Glauben, das Vorbild und die Glaubenserzählungen der Erwachsenen brauchen!
Papst Benedikt XVI., der unsere Diözese von vielen persönlichen Begegnungen her gut gekannt hat, sagte einmal: „Unsere Jahre kommen und gehen. ER bleibt - und wir in IHM". Dieses Wort gilt für die eigene Lebensgeschichte. Wir dürfen es aber auch anwenden auf die Kirchengeschichte und auf den Weg unserer Diözese durch die Jahrhunderte. ER, der Herr der Kirche und der Geschichte, bleibt, durch alles hindurch – und wir haben Halt, Orientierung und ein Ziel in IHM.
Dieser Glaube bewahrt uns vor Triumphalismus und unkritischen, blinden Flecken, aber auch vor ungerechten und plakativen Urteilen gegenüber der Geschichte. Dieser Glaube macht uns Mut, nicht alles, was in der Geschichte sich ereignet hat, zu rechtfertigen oder schön zu reden, aber auch demütig genug, das Heute nicht stolz und selbstgerecht dem Gestern gegenüberzustellen.
Dankbarkeit, Realismus und Hoffnung
Dankbar erinnere ich an meine Vorgänger, die den Weg unserer Diözese Bozen – Brixen mitgeprägt haben: Bischof Josef Gargitter, Bischof Wilhelm Egger und Bischof Karl Golser. Ich nenne sie stellvertretend für alle Priester, Ordensleute, Religionslehrpersonen, Frauen und Männer, Mütter und Väter, Kinder, Jugendliche und alte Menschen, die dem Evangelium und dem Weg unserer Ortskirche in den vergangenen 60 Jahren ein Gesicht gegeben haben. Es waren viele und wir verdanken ihnen viel!
Die Kirche war in ihrer gesamten Geschichte nie einfach eine statische, feste Größe. Wie der Mond hat sie zunehmende und abnehmende Phasen. Die Stellung der Kirche in unserer heutigen Gesellschaft ist einem starken Umbruch unterworfen. Die Gesellschaft mit ihrer sozialen und
politischen Dimension erlebt auch große Herausforderungen und Spannungen. Die Sorge um den Weiterbestand der Schöpfung und die bedrängenden Fragen, die die Krisen- und Kriegsherde in der Welt aufwerfen, machen viele nachdenklich und oft sogar mutlos. Es gibt offene gesellschaftliche und anthropologische Fragen, wo die Antworten immer mehr auseinandergehen.
Bisher vertraute Formen von Kirchlichkeit bröckeln ab. Nicht nur Priester und Ordensberufungen fehlen, wir erleben einen großen Mangel an Gläubigen. Die Frage nach Gott, nach dem biblischen Gott, nach dem Gott Jesu Christi ist in unserer Gesellschaft zweit- und drittrangig geworden. Brauchen wir ihn noch, suchen wir ihn noch, lieben wir ihn noch? Nicht wenige empfinden die Kirche als entbehrlich und als ersetzbar. Auch ihre beiden großen Kraftquellen haben an Attraktivität und Zustimmung verloren: das Wort Gottes und die Sakramente. Unsere Eucharistiefeiern und alle anderen Gottesdienstformen sind viel weniger mitgetragen und geschätzt als vor 60 Jahren. Wir sind als Kirche kleiner, unbedeutender und machtloser geworden. Hoffentlich steht diese Veränderung im Zeichen jenes Wortes, das der große Johannes der Täufer, der Wegbereiter Jesu, von sich sagen konnte: „Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden“ (Joh 3,30). Dann brauchen wir keine Angst zu haben. Dann werden wir wieder entlastend und hoffnungsvoll erfahren: Es geht um IHN, nicht um uns.
Ich danke allen, die unter den heutigen Bedingungen, unserer Ortskirche ein Gesicht geben. Es sind immer noch viele! Von ihrem Glauben, ihrer Hoffnung, ihrem Einsatz, ihrer Treue und ihrem Gebet lebt unsere Kirche. Deswegen habe ich nicht Angst vor der Zukunft – trotz allem und durch alles hindurch. Wir haben IHN im Boot und er, der Gekreuzigte und Auferstandene, steigt ganz gewiss nicht aus! Nicht wir, die Kirche, sondern Christus ist das Licht der Völker: So beginnt das große Dokument des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche „Lumen gentium“.
Segenswunsch
Die lange Geschichte unserer Diözese Säben, Brixen und Bozen – Brixen hat nicht nur Sternstunden, Heilige und Märtyrer hervorgebracht. Stellvertretend für sie alle nenne ich Josef Freinademetz und Josef Mayr – Nusser. Es gibt auch dunkle Stunden und Wegstrecken, Schuld und Versagen. Auch das gehört zu unserem Gedächtnis, gehört zu unserer Identität. Wenn wir die Zukunft gestalten wollen, müssen wir aus der Geschichte lernen und uns ihr vorurteilsfrei stellen. Als Glaubensgemeinschaft beten wir am Beginn der Eucharistiefeier: „Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe“.
Mein Wunsch ist ein gläubiger Blick auf die Geschichte unserer Diözese und ein gläubiger Blick hinter diese Geschichte. Dann kann deutlich werden, wie sehr unser Gott sich auf uns Menschen einlässt, wie sehr er uns Menschen will und braucht, zu welcher Größe gläubige Menschen fähig sind und wie sehr Gott auch auf krummen, menschlichen Zeilen gerade schreiben kann. Möge es unserer Ortskirche, der Erzdiözese Trient und der Diözese Innsbruck, mit denen wir durch eine lange Geschichte verbunden sind, nie an Menschen fehlen, die bereit sind am Heilsplan Gottes mit uns Menschen mitzuschreiben und weiterzuschreiben.
Den Weg, der vor uns liegt, stelle ich unter den Schutz der Gottesmutter Maria. Ohne sie hätten wir Jesus nicht. Und ohne Jesus fehlt der Kirche ihr Fundament, ihre Berechtigung und ihr Auftrag. Ich freue mich darüber, dass unsere beiden Dome von Brixen und Bozen dem Geheimnis der Aufnahme Mariens in den Himmel geweiht sind, das wir am 15. August feiern: Unser Leben und auch der Weg unserer Kirche durch die Geschichte haben eine Perspektive und ein großes Ziel. Ostern ist unsere Hoffnung!
Begleiten mögen uns auch unsere Diözesanpatrone Kassian und Vigilius. Sie erinnern an den Ursprung der Glaubensgeschichte in unserer Ortskirche. Sie erinnern uns aber auch an unseren missionarischen Auftrag heute: : "Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei fremde Lehren irreführen." (Hebr 13, 8-9).
Mit euch auf dem Weg
Euer Bischof
+ Ivo Muser
Bozen, am 6. August 2024, Fest der Verklärung des Herrn und 60. Jahrestag der Errichtung unserer Diözese Bozen - Brixen