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Predigten

Allerheiligen 2021

Bischof Ivo Muser

Bozen/Oberau, Städtischer Friedhof, 1. November 2021

„Der Tod ist der Sargnagel der Hoffnung“. Das hat der deutsche Philosoph Ernst Bloch behauptet. Der heutige Allerheiligentag und der morgige Allerseelentag stellen dieser hoffnungslosen Behauptung das Licht der Hoffnung auf Auferstehung gegenüber.

Warum wären wir sonst jetzt hier? Welchen Sinn sollte sonst dieses Totengedenken haben? Welche Berechtigung sollte eine christliche Begräbnisfeier sonst haben? Warum sollten wir sonst für unsere Verstorbenen beten und für sie die Eucharistie feiern? Wenn wirklich der Tod der „Sargnagel der Hoffnung“ ist, dann ist mit dem Tod alles aus, alles umsonst, alles vergeblich, höchstens vielleicht ein gut gemeinter, hilfloser Selbstbetrug.

Hoffnung ist nicht die Einladung, die rosarote Brille aufzusetzen und so zu tun, als ob nichts geschehen wäre. Hoffnung kann sich nicht erschöpfen in banalen Trostworten, in einem schnellen „geht schon wieder“ oder „ist nicht so schlimm“. Hoffnung, wenn sie wirklich diesen Namen verdient, muss viel mehr sein!

Hoffen heißt Grenzen überschreiten, nicht im Hier und Jetzt aufgehen, nicht einfach bei einer bloß menschlichen, innerweltlichen Perspektive stehen bleiben. Hoffnung hält den Horizont nach vorne offen. Der Schriftsteller und erste Präsident der Tschechischen Republik, Vaclav Havel, hat es so formuliert: „Hoffnung ist nicht Optimismus. Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht. Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

Grund der christlichen Hoffnung ist eine Person! Seine Geschichte in dieser Welt ist nicht einfach gut ausgegangen. Sein Leben in dieser Welt endet nicht mit einem „happy end“. Ganz im Gegenteil: In den Augen dieser Welt ist er gescheitert. Bloß innerweltlich betrachtet, schenkt das Schauen auf ihn keine Hoffnung. Das, was Gott am Ostermorgen an Jesus getan hat, ist der Grund christlicher Hoffnung: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen. Da nämlich durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten“, sagt der Apostel Paulus mit großer Überzeugung (1 Kor 15,20f).

Um diese Hoffnung sollten wir heute und morgen beten - an den Gräbern unserer Verstorbenen, in der Erinnerung an unsere eigenen Familienangehörigen und an die Menschen, die einen besonderen Platz in unserem Herzen haben, im Gedenken an alle Coronatoten, im Gebet für alle Verstorbenen dieses Jahres.

„Ansteckung“ ist eines der häufigsten Worte, die in den vergangenen eineinhalb Jahren die öffentlichen und persönlichen Gespräche beherrscht haben. Allerheiligen und Allerseelen machen uns vom christlichen Osterglauben her Mut zu einer anderen Art der Ansteckung, die durch die Hoffnung übertragen wird und die von Herz zu Herz geht. Diese Hoffnung, die sogar stärker ist als der Tod, hilft uns, dass auch die Coronapandemie zur aufrüttelnden Chance werden kann, zum Anlass für ein bewusstes Innehalten, für eine Kehrtwende, für ein Nein zu einem oberflächlichen „Nur weiter so“. Das setzt voraus, dass wir nicht einfach zur Normalität vor der Krise zurückkehren wollen, sondern dass wir gemeinsam an einer in der Krise verwandelten und gereinigten Normalität unseres Lebens und unseres Zusammenlebens arbeiten. Es geht nicht nur um persönliche Freiheit, sondern um eine Freiheit, die sich zeigt in der Verantwortung für einander und für die Schöpfung, die uns anvertraut ist!

Mich hat es sehr erschreckt, dass bei Demonstrationen gegen die Coronabestimmungen Spruchbänder zu sehen waren, die einen Zusammenhang herstellten zu den grausamen und Menschen vernichtenden Parolen und Taten des Nationalsozialismus. So etwas ist ein Hohn und eine unerträgliche Beleidigung für Millionen von Menschen, denen durch totalitäre Systeme unfassbares Leid zugefügt wurde. Solche Aktionen treten auch die Hoffnung und die Verantwortung mit Füßen, die wir brauchen und die wir einander schulden. 

Allerheiligen und Allerseelen konfrontieren uns mit den existentiellen Fragen unseres Lebens: Was zählt? Was bleibt? Wie gestalte ich mein Leben? Was wäre, wenn ich heute sterben würde? Was ist nach dem Tod? Gibt es Gemeinschaft über das Grab hinaus? Ist Versöhnung an unseren Gräbern möglich? Gibt es ein Wiedersehen jenseits der Grenze des Todes? Im Suchen nach den Antworten auf diese Fragen brauchen viel mehr als nur das Vordergründige, das Nützliche, das Funktionale, das Materielle. Wir brauchen Hoffnung. Wir brauchen Gott und die Hoffnung, die nur er schenken kann!

Nicht nur um uns menschlich zu erinnern, sind wir jetzt da, sondern um zu beten für unsere Verstorbenen: Herr, zeige dich allen unseren Verstorbenen als ein gnädiger Richter; verzeihe ihnen, wenn sie Schuld auf sich geladen haben; nimm sie hinein in dein Licht, das nicht mehr verlöscht. Vergiss jene nicht, an die niemand mehr denkt. Wir bringen zu dir alle, die einen gewaltsamen Tod sterben mussten: durch Hass, Krieg, Terror, Menschenverachtung. Zu dir bringen wir auch die Tausenden von Menschen, die auf der Flucht ihr Leben lassen mussten – und noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie heute!

Auferstandener Herr, du bist unsere Hoffnung, im Leben und im Sterben, für unsere Verstorbenen und für uns alle, die wir noch auf dem Weg sind. Auf dem Weg zum Leben!