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Predigten

Christtag 2019

Bischof Ivo Muser

Bozner Dom, 25. Dezember 2019

„Wir wollen nicht das Himmelreich – wir wollen das Erdenreich!“ – sagte polemisch der Religionskritiker Friedrich Nietzsche. Hier und jetzt soll unser Leben gelingen, hier und jetzt wollen wir glücklich sein. Und wenn Menschen dennoch den Glauben an eine andere Welt und die Hoffnung auf den Himmel hochhalten, dann ist das Wirklichkeitsverlust, unverantwortliche Vertröstung und Weltflucht.

Nicht wenige Ideologien standen und stehen unter dem Anspruch, den „Himmel auf Erden“ zu schaffen. Sie hinterließen und hinterlassen nicht „himmlische Zustände“, sondern Scherben, Blut und Tränen. Auch Religionen können für Fanatismus, Extremismus und Menschenverachtung missbraucht werden. Es gibt genügend Beispiele dafür in Geschichte und Gegenwart.

Nicht wenige Menschen meinen heute, ohne Gott und damit ohne die Hoffnung auf den Himmel auskommen zu können. Nicht wenige schaffen sich selber ihre Religion, die ihren Vorstellungen und Wünschen entsprechen muss. Und gleichzeitig gab es wohl kaum einmal so viel innere Leere, so viel Einsamkeit, so viele Gefühle der Sinnlosigkeit, so viel Angst vor der Zukunft wie mitten in einer Gesellschaft, die vorgibt, dass alles erlaubt sei und dass alles für den Menschen gleich richtig, gleich wichtig, gleich hilfreich und gleich gut sei.

Der Himmel hat die Erde berührt: das ist Weihnachten. Christen glauben an die Brücke vom Himmel zur Erde. Und diese Brücke ist nicht ein wages, religiöses Gefühl, eine stimmungsvolle Idylle, eine menschliche Sehnsucht. Die Brücke vom Himmel zur Erde ist keine Märchenfigur, sondern eine konkrete, unverwechselbare Person: das Kind von Betlehem, der Jude Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte auf Golgotha, der auferstandene Christus. Er „erdet“ den Himmel. Er ist nicht in seinem Himmel geblieben. Er hat sich für diese Welt und für uns Menschen entschieden. Er bringt den Himmel zu uns. Das ist das Weihnachtsgeschenk, das Gott selber uns gemacht hat!

Nicht wir schaffen den „Himmel auf Erden“; wir können uns aber dem Himmel öffnen, der dort beginnt, wo wir IHN in unsere Welt einlassen. Weihnachten sagt uns: Eine Welt ohne Gott, eine Welt ohne die Hoffnung auf den Himmel, wird trostlos, erbarmungslos, gnadenlos. Eine Welt ohne den Blick zum Himmel überfordert den Menschen. Den von uns geschaffenen „Himmel auf Erden“ gibt es nicht. Eine Welt ohne Gott wendet sich letztlich gegen den Menschen und seinen Auftrag für diese Welt.

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen1,1) – mit dieser Ouvertüre beginnt die Hl. Schrift, die große Erzählung von der Beziehung zwischen Gott und uns Menschen. Gott schafft sich in Freiheit sein Gegenüber. Die Welt ist seine Schöpfung, nicht Ergebnis eines blinden Schicksals, eines unberechenbaren Zufalls oder einer chaotischen Macht. Gott und die Welt bleiben in Beziehung, ohne dass Gott und seine Welt miteinander verwechselt werden könnten.

Am Höhepunkt der Beziehungsgeschichte Gottes mit der Welt und uns Menschen wagt der christliche Glaube zu bekennen: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14). Das ist der Kernsatz des heutigen Festtagsevangeliums und das Bekenntnis, das Weihnachten auf den Punkt bringt! Gott lässt sich so sehr auf die Beziehung zu seinem Gegenüber ein, dass er selber ein Stück Welt, ein Stück Geschichte, eben ein Mensch wird. Die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen wird dadurch unauflöslich.

Das Ziel dieser großen Beziehungsgeschichte ist dann erreicht im Kreuz Jesu. Mit einem sprechenden Bild deutet der Evangelist Markus die Lebenshingabe Jesu: „Da riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei“ (Mk 15,38). Das Allerheiligste, der Zugang zu Gott, ist jetzt offen und der Vorhang wird nie mehr geschlossen werden. Das ist Weihnachten: Gott und die Welt, Gott und der Mensch stehen für immer im Dialog!

Um menschlich bleiben zu können, brauchen wir die Hoffnung, die uns den Himmel offen hält, nicht den von uns geschaffenen Himmel, sondern den Himmel, den nur Gott uns bereiten und schenken kann und der in der Nacht von Betlehem für immer unsere Erde berührt hat. Johannes Bosco, der begnadete Erzieher und Freund der jungen Menschen, hat einmal gesagt: „Mit dem Herzen im Himmel, mit den Füßen auf der Erde“. Betrügen wir unsere Kinder und jungen Menschen nicht um diese Hoffnung!

Wir feiern an Weihnachten nicht einen sympathischen Kindergeburtstag. Wir feiern auch nicht nur die Idylle des Kindseins. Wir feiern, dass Gott selber im Kind von Betlehem und durch das ganze Leben Jesu die Erde berührt hat: Diese weihnachtliche Zusage muss für Christen zu einem weihnachtlichen Auftrag werden. Seit der Nacht von Betlehem hat der Himmel zu tun mit unserer eigenen Lebensgeschichte, mit unserer Herkunft, mit der Alltäglichkeit unseres Berufes, unserer Aufgaben und Beziehungen; er hat zu tun mit unseren Schulen und Ausbildungsstätten, mit unseren Krankenhäusern und Altersheimen, mit der Realität des Gefängnisses, mit den Krisen- und Kriegsgebieten unserer Erde. Inmitten unserer Auseinandersetzungen und Lebensfragen muss deutlich werden, dass wir an den Himmel glauben. Dort, wo es menschlich zugeht und oft auch unmenschlich, dort, wo es schwer fällt an Menschlichkeit zu glauben, sollten wir IHN suchen. Hier ist er zu finden; in diese Wirklichkeit hinein wurde er geboren; hier hat er für uns gelitten und leidet er noch. Wo es menschlich und manchmal allzu menschlich zugeht, gilt es, das Menschliche auf Gott hin zu öffnen, indem wir Jesus und sein Evangelium hineinsagen in unsere Beziehungen und in unsere Gesellschaft, indem wir uns zu unserem Glauben bekennen, die Hoffnung stärken, die Schuld verzeihen und den Frieden tun.

Das ist mein Weihnachtswunsch an diesem Christtag 2019: Dass wir uns auf allen Ebenen unseres persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens in den Dialog zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und uns Menschen hineinnehmen lassen und dass dieser Dialog nicht durch ein religionsneutrales oder gar ein religionsfeindliches Klima ausgeklammert wird. Und warum? Weil es um uns und unsere gemeinsame Zukunft geht, weil es um verbindliche und verbindende Werte in unserer Gesellschaft geht, weil es um die Würde eines jeden Menschen geht. Weil der Glaube an den Himmel, der uns in Jesus berührt, unserem Leben Halt, Hoffnung, Orientierung und ein großes Ziel schenkt!