„Systemische Kontexte des Missbrauchs“: ein wichtiges Thema, dem wir uns heute gestellt haben. Für mich als Bischof heißt das, dass wir einen Gesamtblick brauchen. Alles beginnt mit dem Mut zum Hinschauen. Nur so können wir verstehen, wie es zu Missbrauch kommen konnte, wie man damit umgegangen ist und was wir heute und morgen anders machen können und müssen.
Es ging heute um die Wurzeln des Missbrauchs. Es ging darum, die dringliche Auseinandersetzung mit diesen Wurzeln aufzuzeigen und für eine notwendige Veränderung den Blick zu öffnen. Dafür danke ich den Referenten Peter Beer, Alexander Notdurfter und Reinhard Demetz, die uns dabei geholfen haben.
Schon seit längerem und einem breiteren Kontext beschäftigt mich die Frage: Wie könnte eine Vision für unsere Diözese aussehen? Vor einem Jahr habe ich bei unserer Pastoraltagung meine Vision mit dieser Frage eingeleitet: Was sehen wir, wenn wir uns gedanklich ins Jahr 2038 begeben? Meine provokante Antwort darauf war: 2038 sind wir weniger, bescheidener und machtloser. Gleichzeitig habe ich mit diesem nüchternen Blick die Hoffnung verbunden: Wir sind 2038 mehr vom Evangelium beseelt. Wir sind stark im Hören und stark in Beziehungen.
Im Blick auf die heutige Tagung greife ich von dieser Vision für unsere Diözese nur ein Wort auf: „machtloser“. An der Wurzel jeder Form von Missbrauch und Gewalt steht Macht, die nicht konstruktiv, sondern destruktiv ist. Eine Macht, die die Würde der menschlichen Person missachtet, ihre Freiheit verletzt und ihrem Leben Schaden zufügt. Die Ausübung einer solchen verletzenden, destruktiven Macht entsteht in einem Minenfeld systemischer Bedingungen, die sowohl die christlichen Werte und Grundhaltungen als auch die strukturellen Rahmenbedingungen betreffen.
Deshalb möchte ich meine Zukunftsvisionen für unseren Umgang mit Missbrauch in all seinen Formen in drei Punkten aufzeigen.
Eine erste Vision bezieht sich auf eine veränderte, systemische Sichtweise: Kirche, undich füge dazu,Gesellschaft, verstehen Missbrauch als Ergebnis einer geschaffenen, tabuisierten und tradierten sozialen Un-Kultur. Diese Einsicht und selbstkritische Übernahme von Verantwortung ermöglichen eine kulturelle Veränderung.
Missbrauch, in welcher Form auch immer, fällt nicht vom Himmel und geschieht nicht irgendwo anders, sondern wurzelt und wächst im Garten unserer Kultur. Papst Franziskus spricht in diesem Zusammenhang von einer Kultur des Todes.
In meiner Vision wird eine Kultur der Aufmerksamkeit, der Zivilcourage und der Verantwortung gepflegt, die die Würde des Menschen, seine Freiheit und sein Leben achtet und dem Gemeinwohl verpflichtet ist.
Durch eine veränderte Sprache, Haltung und Verhaltensweise sowie durch klare Vorgaben und Vorgehensweisen wird dem Missbrauch der Nährboden entzogen.
Ich wünsche mir, dass immer mehr Menschen zu dieser Einsicht kommen und diese Umkehr, diese Kehrtwende, diese Mentalitätsveränderung vollziehen.
Meine zweite Vision im Umgang mit Missbrauch in all seinen Formen bezieht sich auf Inhalte und Strukturen unserer kirchlichen und auch gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dazu gehören in erster Linie die ganzen Themen, die mit Missbrauch verbunden sind, wie zum Beispiel: welches Menschenbild, welches Gottesbild, welche Sicht von Welt und Zukunft wir in uns tragen. In Bezug auf Macht steht die Frage an, welche Erfahrungen und Vorstellungen wir davon haben und wie wir mit Macht in unseren Lebens- und Arbeitsbereichen umgehen. In meiner Vision ist ein offener und respektvoller Dialog darüber zentral – ohne Scheuklappen und Maulkorb.
Dasselbe gilt auch für den Umgang mit Strukturen. Diese sind in meiner Vision so angelegt, dass sie mithelfen, dass die Kirche ein sicherer Ort für Minderjährige, also für Kinder, Jugendliche und schutzbedürftige Personen, sein kann. Den von Missbrauch Betroffenen wird Unterstützung zugesichert und Gerechtigkeit zuteil.
Betroffene und Mitbetroffene sind am ganzen kirchlichen und gesellschaftlichen Prozess zur Durchführung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen beteiligt.
Der Umgang mit Beschuldigten, aber auch mit Tätern und Falschbeschuldigten ist so geregelt, dass die rechtlichen Normen eingehalten und entsprechende Maßnahmen der Begleitung und der Kontrolle gewährt werden.
Noch eine dritte Vision beschäftigt mich im Zusammenhang mit einer systemischen Betrachtungsweise des Missbrauchs: die Mitglieder der Kirche und der Gesellschaft zeigen Zivilcourage und Verantwortung bei der Vorbeugung, Aufdeckung und Aufarbeitung von jeglicher Form von Missbrauch und Gewalt.
Beides ist in meiner Zukunftsvision wichtig: Zivilcourage und Verantwortung sowohl innerhalb der Kirche wie in allen übrigen Bereichen unserer Gesellschaft. Das motiviert und stärkt sowohl unsere Pflicht zur Rechenschaft als auch unsere Glaubwürdigkeit in unserem Tun entsprechend der Zusage Jesu: „Die Wahrheit wird euch frei machen!“ (Joh 8,32).
Das Projekt „Mut zum Hinsehen“, das in unserer Diözese zurzeit durchgeführt wird, sieht einen prozesshaften, partizipativen und präventionsorientierten Weg vor. Der systemische Blick öffnet uns die Augen, die Ohren und das Herz für ein umfassendes Sehen – Urteilen und Handeln. Diesen systemischen Blick einzunehmen, das ist mein Wunsch für mich und für uns alle. Ich wünsche uns allen diesen Mut – einem jeden und einer jeden von uns am eigenen Platz.
Mein Dank gilt noch einmal den Referenten des heutigen Vormittags. Mein Dank gilt der Ombudsfrau, Dr. Maria Sparber, und unserem Diözesanpriester Gottfried Ugolini, dem Diözesanbeauftragten für den Schutz von Minderjährigen und schutzbedürftigen Personen und für die Prävention von sexuellem Missbrauch und anderen Formen von Gewalt.
Ich danke allen Mitgliedern des Fachbeirates für ihre Bereitschaft und für ihren Beitrag zur Förderung einer Kultur des Lebens, der den Schutz von Kindern, Jugendlichen und anderen schutzbedürftigen Menschen zum Ziel hat. Mein Dank gilt auch Generalvikar Eugen Runggaldier, in dessen institutionellen Verantwortungsbereich dieses Anliegen gehört. Aber vergessen wir es nicht: Es geht um ein Anliegen, das uns alle angeht. Es braucht uns alle – in Kirche und Gesellschaft.