Zum Hauptinhalt springen
Predigten

Karfreitag 2021

Bischof Ivo Muser

Bozner Dom, 2. April 2021

Wie jedes Jahr haben wir an diesem heiligen, einprägsamen Tag wieder die Leidensgeschichte des Johannes gehört. Ich danke für die Stille und für die Betroffenheit, die jetzt zu spüren waren. Nur auf eine Szene in dieser Leidensgeschichte lenke ich jetzt unsere Aufmerksamkeit: Es ist die Szene, in der Petrus seinen Herrn verleugnet. Wir haben es eben wieder gehört (Joh 18,16f.25-27): Nicht nur einmal, sondern dreimal behauptet Petrus, Jesus überhaupt nicht zu kennen.

Nicht bei Johannes, wohl aber bei den anderen drei Evangelisten, Matthäus, Markus und Lukas, wird ausdrücklich von den Tränen des Petrus berichtet: Nach Markus erinnert sich Petrus beim Hahnenschrei daran, dass Jesus prophezeit hatte, dass Petrus ihn verleugnen werde und er beginnt zu weinen (Mk 14,72). Matthäus setzt hinzu, dass Petrus „bitterlich“ weint (Mt 26,75). Wir brauchen nicht viel Fantasie, um uns vorzustellen, dass das stimmt: Das Weinen ist nur eine natürliche Reaktion, als Petrus merkt, was er da getan hat. Welche Enttäuschung über sich selbst: Dass ausgerechnet er, der Sprecher des Zwölferkreises, so kläglich versagt!

Beim Evangelisten Lukas hat diese Stelle noch einmal ein besonderes Gepräge: Denn in der Lukas - Passion ist da nicht nur der Hahnenschrei, der die Erschütterung des Petrus auslöst, sondern es kommt im Hof des Hohepriesters sogar noch einmal zu einer Begegnung zwischen Petrus und Jesus: Jesus wendet Petrus zu und schaut ihn an. Dieser Blick ist es, der dem Ersten der Apostel bittere Tränen in die Augen getrieben hat (Lk 22,61f). Stellen wir uns diesen Blick Jesu vor: Welche Enttäuschung wird darin gelegen haben und welche Trauer über das Versagen seines Freundes. Was in diesem Blick aber nicht lag, war sicher Rechthaberei, nach dem Motto: Siehst du, ich habe es dir ja schon prophezeit. Und wahrscheinlich lag in diesem Blick auch keine Anklage. Ansonsten wäre es nicht verwunderlich, wenn auch Petrus sich wie Judas einen Strick genommen hätte angesichts seines schrecklichen Versagens. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass die Verleugnung des Petrus Jesus noch mehr wehgetan hat als der Verrat des Judas. Es gehört zu den ganz bewegenden Seiten der Heilsgeschichte: Nach Ostern wird diesem Petrus, der nicht einmal mehr zugeben konnte, Jesus zu kennen, eine tragende Rolle, d i e tragende Rolle für die junge Kirche anvertraut.

Liebe Schwestern und Brüder, Papst Franziskus erinnert oft daran, dass es in der spirituellen Tradition der Kirche die „Gabe der Tränen“ gibt. Was soll damit gemeint sein? Mit dieser Gabe ist keine Weinerlichkeit gemeint, kein Selbstmitleid. Es geht auch nicht um eine theatralische Zurschaustellung von Gefühlen. Vielmehr führen uns die Passionserzählungen über Petrus in die richtige Richtung: Es geht um die Gabe und die Bereitschaft, sich innerlich berühren zu lassen, nicht abzustumpfen.

Ganz konkret: Bewegt uns das, was anderen geschieht, was Menschen erleiden und durchzustehen haben? Kommen uns manchmal die Tränen, wenn wir die Nachrichten sehen oder hören? Tränen über das Leid von Menschen, aber vielleicht auch Tränen der Rührung über eine gelungene Rettung, über politische Durchbrüche, über Schritte zum Frieden …? Haben uns die vielen Corona – Nachrichten und Corona – Bilder sensibler, hörender, sehender, solidarischer gemacht für das Leid von Menschen? Prallen Nachrichten über das Leid anderer Menschen bei mir einfach ab, weil ich nur mit mir selber beschäftigt bin? Kann ich mit-leiden, aber auch mich mit-freuen? Bin ich betroffen, wenn Unrecht geschieht – bei uns und anderswo? Schaue ich hin oder schaue ich einfach weg? Bin ich imstande, Menschen in Not in die Augen zu schauen? Bin ich imstande, zu trösten? Bin ich imstande, Menschen nahe zu sein, mit ihnen unter ihren Kreuz auszuhalten? Neige ich zu schnellen, oberflächlichen und bequemen Urteilen über andere? Lasse ich mich treffen oder lässt mich das Schicksal anderer kalt?

Papst Franziskus spricht immer wieder von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Man könnte fragen: Ist das nicht irgendwie auch ein Schutzmechanismus, um überhaupt mit all dem klar zukommen, was auf uns einströmt, das persönliche Leben miteingeschlossen. Aber der Papst hat recht: Wenn wir der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ freien Lauf lassen, dann wird uns das die Menschlichkeit rauben. Glauben wir nicht, dass unsere Gleichgültigkeit nur anderen schadet! Sie wird auch uns deformieren, wenn wir ihr nachgeben. Der Weg kann deshalb nicht heißen, sich mehr und mehr abzuschotten und abzuhärten. Deshalb der Vorschlag des Papstes, um  die Gabe der Tränen zu bitten.

Jesus war alles andere als gleichgültig! Er ließ sich treffen von den Fragen, Nöten, Verwundungen der Menschen. Er ließ sich treffen vom Schmutz und vom Unheil menschlicher Sünde. Höhepunkt seines Lebens für die anderen ist sein Kreuz. Weiter konnte selbst er nicht mehr gehen, um uns zeigen, dass wir ihm nicht gleichgültig sind! Der Karfreitag ist der Höhepunkt von Weihnachten, der Höhepunkt seiner Menschwerdung für die anderen – für uns, für alle. Verstehen wir, warum gerade das Kreuz zum Zeichen für ihn geworden ist und warum das Kreuz durch kein anderes christliches Zeichen ersetzt werden kann?

Schauen wir auf Jesus, den Gekreuzigten! Suchen wir seinen Blick und bitten wir ihn, dass er uns anschaut. Lassen wir uns persönlich treffen vom Blick seiner Barmherzigkeit. Bitten wir ihn an diesem heiligen Tag um die Gabe der Tränen.