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Predigten

Karfreitag 2022

Bischof Ivo Muser

Bozner Dom, 15. April 2022

Wenn wir die Geschichte des Leidens Jesu hören und auf sein Kreuz schauen, dann können wir das nie tun im bloßen Blick zurück, auf das Damals. Unwillkürlich kommen uns die Bilder und Schicksale von Menschen in den Sinn, die heute leiden und ein schweres Kreuz zu tragen haben. Zum Karfreitag gehören der Blick auf den Gekreuzigten und genauso der Blick auf die Bilder der Leiden unserer Zeit.

Die vergangenen Wochen seit dem 24. Februar waren geprägt durch die Bilder des Ukrainekrieges. Kriegsbilder, die ungeschminkt deutlich machen, was die Konsequenz eines jeden Krieges ist: Zerstörung, Verletzung der Menschenwürde und der Menschenrechte, getötete und geschundene Menschen, die auf den Straßen liegen, Menschen auf der Flucht.

Ich denke mit großer Scham an das, was Kindern und Jugendlichen durch sexuellen Missbrauch angetan wurde, auch von Menschen in der Kirche. Ich denke an die vielen Verbrechen, die an Kindern weltweit begangen werden: die Kindersoldaten; die minderjährigen Prostituierten; die entführten Kinder, die nicht selten Opfer des Handels mit menschlichen Organen werden; die Kinder, die Opfer des Krieges sind; die Kinder auf der Flucht; die abgetriebenen Kinder. 

Ich denke mit großer Betroffenheit an das, was Frauen angetan wird durch Gewalt, Erniedrigung, Pornographie und Prostitution. 

Waffen töten, Worte tun es auch. Trotzdem werden in den sozialen Netzwerken und nicht nur dort Andersdenkende rücksichtslos beschimpft. Immer noch gibt es eine arrogante „Wir-sind-wir-Mentalität“, einen hochmütigen Nationalismus, einen gefährlichen Rassismus, einen billigen Populismus, einen hässlichen Antisemitismus, einen menschenverachtenden Terrorismus, und Rüstungsexporte steigen. 

Immer noch, und heute verstärkt, werden Menschen weltweit benachteiligt, verfolgt und sogar getötet wegen ihrer religiösen Überzeugung, darunter vor allem Christen. 
Am Karfreitag schauen wir auf den zu Tode verwundeten Jesus am Kreuz. Wir wenden unseren Blick bewusst nicht ab, setzen uns dem Anblick aus, ja, machen die Wirkung des Anblicks noch stärker, indem wir heute ganz bewusst das verhüllte Kreuz enthüllen. Wir schauen auf den Gekreuzigten und suchen bei der Kreuzverehrung seine Nähe. In allen Verwundungen der Geschichte und der Gegenwart suchen wir die Nähe dieses Verwundeten, um uns von ihm heilen zu lassen.

Doch wie soll das gehen? Durch die Wunden eines anderen geheilt werden? Das ist nur möglich, wenn wir daran glauben, dass dieser Verwundete und Getötete Gottes Sohn ist und dass er durch den Tod hindurch heute als der Auferstandene lebt. Wir glauben, dass Jesus in einem unbeschreiblichen Maße solidarisch war mit allen Menschen: an ihrer Seite in der Freude, im Weinen, im Trauern, im Leiden und sogar im Sterben. Wir glauben, dass er ganz eingetreten ist für die anderen. Jesus ist der Inbegriff des solidarischen Menschen. Wir glauben, dass in seinen Wunden Gott selber sich für uns verwunden ließ, damit unsere Wunden, die erlittenen und die selbstverschuldeten, Heilung finden.

Einer der großen Heiligen der Kirche, der heilige Ignatius von Loyola, der seine innere, seelische Heilung einer äußeren Verwundung im Krieg verdankt, weil er auf dem Krankenlager seine eigentliche Bekehrung erfahren hat, tut das Kühnste, was ein Christ tun kann: Er bittet darum, in den Wunden Christi geborgen zu sein. Ignatius war davon überzeugt, dass Jesu Wunden so weit sind, dass alle menschlichen Wunden darin Platz haben und dass diese Wunden die wichtigsten Orte der Heilung sind, die wir uns vorstellen können. Denn sie bringen uns mit dem lebendigen Gott in Berührung.

Ich lade euch jetzt ein, an diesem heiligen Tag unserer Erlösung, mit mir dieses Gebet des hl. Ignatius gemeinsam zu sprechen (Gotteslob 6.7): Legen wir alle Wunden dieses Karfreitags, die persönlichen und die Wunden der Menschheit, in dieses Gebet hinein:

Seele Christi, heilige mich.
Leib Christi, rette mich.
Blut Christi, tränke mich.
Wasser der Seite Christi, wasche mich.
Leiden Christi, stärke mich.
O guter Jesus, erhöre mich.
Birg in deinen Wunden mich.
Von dir lass nimmer scheiden mich.
Vor dem bösen Feind beschütze mich.
In meiner Todesstunde rufe mich,
zu dir zu kommen heiße mich,
mit deinen Heiligen zu loben dich
in deinem Reiche ewiglich. Amen