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Hirtenbriefe

Selig, die Frieden stiften

Liebe Schwestern und Brüder in unserer Diözese Bozen–Brixen!
Vor 100 Jahren, in den Tagen rund um Allerheiligen und Allerseelen, ging ein entsetzlicher Krieg zu Ende. Es muss uns betroffen machen und nachdenklich stimmen, dass sich in diesem Flächenbrand, den wir den Ersten Weltkrieg nennen, vor allem Christen gegenüberstanden, und Nationen, die sich mit Selbstverständlichkeit „christlich“ nannten.

Der Krieg war von vielen gewollt
„Allmächtiger Gott, Herr des Himmels und der Erde, Herr der Kriegsscharen und Erhalter der ganzen Welt, segne durch dein unschuldiges Blut die kaiserlichen Waffen ... Erhalte die Krieger in ihrer unerschütterlichen Treue und führe sie im vertrauensvollen Kampfe zum glücklichen Siege!“ Dieses „Gebet für unsere Soldaten“ stammt von einem meiner Vorgänger, Fürstbischof Franz Egger von Brixen. Schon in seinem Hirtenbrief vom 30. Juli 1914, also zwei Tage nach dem offiziellen Beginn des Ersten Weltkriegs, stehen die Worte: „Wenn es je einen gerechten Krieg gab, so ist es gewiss der gegenwärtige“.
Während Papst Benedikt XV. konsequent zum Frieden mahnte und diesen Krieg als einen „Selbstmord des zivilisierten Europa“ nannte, erfasste die Kriegsbegeisterung nicht nur weite Teile Europas, sondern auch weite Teile unserer Bevölkerung. Der Krieg fiel nicht aus heiterem Himmel, sondern wurde lange in den Köpfen, in der Politik, in der Kultur und in der Wissenschaft, in der Wirtschaft und auch in der Religion, vorbereitet. Dieser Krieg – das müssen wir heute ehrlich zugeben - war von vielen gewollt, und er wurde fast durchgängig als ein „heiliger Krieg“ bezeichnet, manchmal auch als „Gericht Gottes“ gegenüber den anderen, die als Feinde des Glaubens und des Vaterlandes angesehen wurden.

Demut und Auftrag
In der Erinnerung an die Ereignisse vor 100 Jahren geht es nicht darum, hochmütig und besserwisserisch zurückzuschauen oder Menschen von damals selbstgerecht vor das Tribunal der Gegenwart zu zerren. Wir vergegenwärtigen uns nachdenklich und betroffen einen Teil unserer Geschichte, um Brücken für den Frieden zu bauen. Es gilt, angesichts der Katastrophe und der weitreichenden Konsequenzen dieses Krieges, die Bereitschaft und den Willen zum Frieden zu erneuern und mit Entschiedenheit zu lernen, dass die Sprache des Krieges für uns keine Alternative und keine Option sein darf.
Die gemeinsame Erinnerung an die Schrecken und Grausamkeiten dieses Krieges will diese Mahnung tief in unser Herz senken: Friede muss gewollt und gesucht werden, der Friede bedarf der Pflege und der Wachsamkeit, damit er nie für angeblich höhere Interessen geopfert wird. Das Gedenken und Bedenken will und soll die Erinnerung wachhalten: um des Friedens willen, um der Würde der Menschen willen, um unserer gemeinsamen Zukunft willen!
Angesichts des unendlichen Leids, das Kriege ausnahmslos immer bringen, dürfen wir den Frieden nicht aufs Spiel setzen, indem wir Öl ins Feuer der Konflikte gießen. Die berechtigte und notwendige Vergegenwärtigung der Geschichte, mit ihren Ungerechtigkeiten und mit ihren Wunden und Narben, darf nicht dazu missbraucht werden, begangenes Unrecht durch neues Unrecht zu legitimieren.

Die Wurzeln dieses Krieges
Der Erste Weltkrieg hat unsagbares menschliches Leid und den Tod von Millionen ausgelöst, und die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts müssen in Verbindung damit gesehen werden, nicht zuletzt auch das millionenfache Sterben im Zweiten Weltkrieg. Der Aufstieg und die Machtergreifung des Faschismus in Italien sind ohne diesen Krieg kaum vorstellbar; ebenso wenig die Oktoberrevolution der Bolschewiken und der darauf folgende russische Bürgerkrieg, der Millionen Menschenleben verschlang. Auch der Nationalsozialismus mit seiner Menschen verachtenden und Menschen vernichtenden Ideologie, und damit auch der grausame und konsequente Vernichtungsplan gegen die Juden mit Millionen von Opfern, haben hier ihre Wurzeln.
Im Gedenken an diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gilt es, die Wurzeln des Krieges zu benennen: Dazu gehören ein Nationalismus, der zum Religionsersatz geworden war; Hass, Verachtung und Arroganz gegenüber anderen Völkern; die Anmaßung absoluter Macht über Leben und Tod, aber auch die Gier nach Reichtum und neuem Lebensraum. Damals wie heute wird der Friede durch massive Gerechtigkeitsdefizite und Verstöße gegen die Menschenrechte bedroht. Besonders gefährlich sind auch Glorifizierung und Rechtfertigung von Gewalt. Es muss ein klares und hörbares Nein durch unsere Gesellschaft gehen, wenn Menschengruppen generell verdächtigt werden oder wenn dazu aufgerufen wird, unser Land von bestimmten Menschengruppen zu reinigen. Die Anklage, die sich Petrus während des Prozesses Jesu anhören muss, bleibt immer aktuell: „Deine Sprache verrät dich“ (vgl. Mt 26,73).

Kein Krieg ist ein Sieg
In diesen Tagen der Erinnerung, des Bedenkens und Gedenkens, sollte niemand von einem Sieg reden; Siegesdenkmäler aller Art, die an Diktaturen und Kriege erinnern, sollten für immer ihre Anziehungskraft verlieren. Es wäre ein konkretes und weitsichtiges Zeichen, wenn der Platz vor dem sogenannten Siegesdenkmal in Bozen zu einem Platz des Friedens, der Versöhnung, der Verständigung und des Willens zum Zusammenleben umbenannt würde! Es gibt keine Siege, die durch Krieg, durch Nationalismus, durch Abwertung anderer Völker, Sprachen und Kulturen erreicht werden. Am Ende eines Krieges gibt es immer nur Verlierer!
Auch in der Stadt Görz wurde der „große Platz“ zum „Siegesplatz“ umbenannt. Im Jahre 1966 sagte der italienische Dichter Giuseppe Ungaretti, der hier im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte: „Der Name Gorizia bedeutete keinen Sieg; es gibt keine Siege auf Erden, es sei denn aus frevelhafter Einbildung; dieser Name bedeutete vielmehr gemeinsames Leiden, unser Leiden und das Leiden derjenigen, die uns gegenüber standen und die wir Feinde nannten; aber in unseren Herzen hatten wir uns verbrüdert, obwohl wir ohne Feigheit und in blindem Gehorsam unsere Pflicht erfüllten".
Gereinigte Erinnerung heißt Befreiung von den alten Feindbildern und von den Methoden, diese aufzubauen und zu rechtfertigen. Versöhnte Erinnerung bedeutet, den politischen Willen aufzubringen, der aus alten Feinden Partner und Freunde macht. Christinnen und Christen haben die Aufgabe, als Frieden stiftende die Zukunft zu gestalten.
Als Christen und als kirchliche Gemeinschaft sind wir aufgerufen, die politisch Handelnden und Verantwortlichen nicht allein zu lassen, sondern ihnen zu helfen und ihnen Mut zu machen, damit sie Entscheidungen treffen, die dem Frieden und dem Gemeinwohl dienen.

Brücken für den Frieden
Der Erste Weltkrieg brachte weitreichende Folgen für unser Land: Südtirol kam zu Italien; Tirol wurde auseinandergerissen und auf zwei Staaten aufgeteilt; mitten durch die alte Diözese Brixen führte nun eine Staatsgrenze. Durch die faschistische Ideologie kam es zu schmerzlichen Verboten im Bereich der Sprache, der Schule, der Kultur, des Vereinswesens. Eine gewollte und erzwungene Entfremdung im jahrhundertealten Kulturraum Tirol begann. Für viele Menschen waren die folgenden Jahrzehnte leidvoll geprägt durch die beiden Diktaturen des Faschismus und des Nationalsozialismus, durch die unselige Optionszeit und den Zweiten Weltkrieg.
Heute liegt es an uns, dass die Grenzen offen bleiben und dass zusammenwachsen kann, was zusammengehört: in den Herzen und in den Köpfen, durch die vielen Chancen und Möglichkeiten, die uns gegeben sind in einem versöhnten und geeinten Europa mit starken Regionen.
Mögen wir als Menschen des Friedens unser Leben und Zusammenleben gestalten – nicht rückwärtsgewandt, sondern mit dem gemeinsamen Blick nach vorne! Möge es uns geschenkt sein, mit Entschiedenheit Einheit in der Vielfalt zu wollen – hier bei uns und in einem gemeinsamen Europa, wo verschiedene Kulturen, Sprachen und religiöse Bekenntnisse sich begegnen und gegenseitig bereichern.
Mögen wir unsere christliche Identität neu entdecken und pflegen im respektvollen Dialog mit der Identität der anderen. Nicht alles, was sich heute auf das Christentum beruft, ist auch vom Christentum geprägt. Und möge unser Zusammenleben geprägt sein vom festen Willen, aus der leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu lernen, die auch unser Land verwundet und geprägt hat.
Wir brauchen heute konkrete, verbindende und versöhnende Zeichen, die uns helfen, die Geschichte gemeinsam zu verstehen, zu vergegenwärtigen, zu deuten und zu verzeihen. Auf allen Seiten gab es Opfer und Täter!
Wir alle können schlichte Zeichen des Friedens setzen, indem wir uns bemühen, die „Anderen“ kennenzulernen: den eigenen Nachbarn und die eigene Nachbarin; einen konkreten Menschen, der einer anderen Volksgruppe angehört; einen Flüchtling mit seiner Geschichte und seiner Hoffnung. Jedes echte Kennenlernen baut eine Brücke für den Frieden.

Nicht vergessen
Vergessen wir nie: Krieg beginnt nicht auf den Schlachtfeldern, sondern in den Gedanken, Gefühlen und Worten der Menschen. Unsere Gedanken sind nie neutral und unsere Sprache verrät uns immer. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Denken, Reden und Tun – vor hundert Jahren und auch heute.
Vergessen wir nicht die Tausenden von jungen Menschen, die auch aus unserem Land in diesen mörderischen Krieg geschickt wurden. Sie mahnen uns zu konkreten Projekten des Friedens. Mögen vor allem unsere jungen Menschen gemeinsam an ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft bauen. Wenn unsere Jugendlichen die tragischen Ereignisse vor hundert Jahren kennenlernen und die Schauplätze des Krieges besuchen, an denen junge Menschen wie sie sich in einem absurden Krieg gegenüberstanden und töteten, werden sie erkennen, dass der Friede nie selbstverständlich ist, dass er Tag für Tag gewollt und aufgebaut werden muss.
Lassen wir uns - ganz persönlich und auch als Glaubensgemeinschaft - treffen von den Seligpreisungen Jesu aus seiner Bergpredigt, die am Allerheiligenfest in allen katholischen Kirchen der Welt verkündet werden: „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden“ (Mt 5,9).

Euer Bischof
+ Ivo Muser Hochfest Allerheiligen, 1. November 2018


NB. Dieser Hirtenbrief soll am Allerheiligenfest oder an einem Sonntag im November in den Gottesdiensten vorgestellt und vertieft werden.