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Botschaften & Stellungnahmen

Weihnachtsbotschaft im Südtiroler Landtag 2021

Bischof Ivo Muser

Bozen, Landtag, 15. Dezember 2021

Stimata Presidente del Consiglio Provinciale, sehr geehrter Herr Landeshauptmann und geehrte Mitglieder der Landesregierung, stimati Consiglieri Provinciali, sehr geehrte Damen und Herren, gentili Signore e Signori!

Es gibt Erzählungen, die zur Weltliteratur geworden sind. Dazu gehört sicher auch die Erzählung des Lukasevangeliums, die wir alle seit unseren Kindertagen kennen und die untrennbar mit dem Geschehen von Weihnachten verbunden ist.

Diese Geschichte beginnt im kaiserlichen Rom, und sie beginnt politisch. Kaiser Augustus hat den Bewohnern seines Reiches befohlen, sich in der jeweiligen Geburtsstadt registrieren zu lassen. Den Anlass dazu und wie die Geschichte ausgegangen ist, erfahren wir nicht, weil der Evangelist Lukas die Zählgeschichte abbricht und eine Gegengeschichte bringt: die Weihnachtsgeschichte. Sie handelt von kleinen Leuten, von Maria und Josef, einem Kind in der Krippe und von Hirten. Es ist eine Geschichte über Menschen, die zwar gezählt werden, die aber nichts zählen. Das Berührende und auch das Revolutionäre an der Weihnachtsgeschichte sind, dass aus dieser Geschichte über kleine Leute Weltgeschichte geworden ist. Der Anspruch dieser Erzählung ist groß: Sie beginnt in Rom, der Hauptstadt der damaligen Welt, sie ereignet sich in Betlehem, einem unbedeutenden Winkel der damaligen Welt, und sie ist bestimmt für die ganze Welt – damals und heute.

Die Zählung, die Kaiser Augustus einst anordnete, geschieht auch heute noch, allerdings unter völlig veränderten Vorzeichen. Heute wird gezählt und gerechnet wie nie zuvor: Persönliche Daten werden erfasst, Gewinne und Renditen gezählt, Wachstum und Bruttosozialprodukt in Prozenten errechnet. Leistung wird gewogen, gezählt werden die Kosten für Dienste an Kranken, an Alten und Gebrechlichen. Gezählt und gerechnet wird bei den Ausgaben zur Eindämmung von Armut. Auch die Existenz von Flüchtlingen wird in Zahlen und Kontingenten angegeben. Die Geschichten hinter den Flüchtlingen interessieren aber oft nicht. Und die täglichen Coronazahlen haben uns alle müde gemacht.

Nicht gezählt werden menschliche Begegnung, Zuwendung, geschenkte Zeit, Interesse füreinander, praktizierte Sorge um den Menschen neben uns. Martin Heidegger, der deutsche Philosoph, unterscheidet zwei Denkformen: das rechnende Denken und das besinnliche Denken. Vom ersteren, meint er, es sei überentwickelt; beim besinnlichen Denken, beim Nachdenken, beim Innehalten und nachhaltigen Reflektieren, da gäbe es

Oft stelle ich mir diese Fragen: Wie schaffen wir den Umstieg vom rechnenden zum besinnlichen Denken? Wie zeigt sich das besinnliche Denken inmitten der Zahlen, die wir brauchen? Wie schaffen wir den Umstieg vom quantitativen zum qualitativen Wachstum? Damit eng verbunden ist die ökologische Frage. Jene Frage, von der Wissenschaftler und zunehmend mehr Menschen, vor allem auch junge Menschen, überzeugt sind, dass sie uns alle noch viel mehr herausfordern wird als die Coronapandemie.

Materieller Wohlstand und Konsumsteigerung allein haben die Menschen nicht zufriedener gemacht. Das wissen und erleben wir auch in Südtirol. Anlass zu Sorge bietet auch bei uns eine Einstellung, wo vor allem in Anspruchskategorien gedacht wird. Unsere Gesellschaft hat sich zu einer fordernden, zu einer immer mehr fordernden Gesellschaft entwickelt. Dankbarkeit und Maß sind für viele keine Leitwerte. Zu fragen wäre, ob der Begriff „Wohlstand“ überhaupt noch das beinhaltet, was wir meinen, wenn von mehr Lebensqualität die Rede ist. Wenn wir von „Konsum“ sprechen, meinen wir weithin noch immer den Konsum jener materiellen Güter, die uns in der Welt des Habens gefangen halten und uns hindern, häufiger in die Welt des Seins einzutauchen.

Papst Franziskus sagt im Blick auf die Coronapandemie, die auch in diesem Jahr 2021 alles beherrscht und in den Hintergrund gestellt hat: „Schlimmer als die gegenwärtige Krise wäre nur, wenn wir die Chance, die sie birgt, ungenutzt verstreichen ließen, um uns in uns selbst zu verschließen“. Hat nicht gerade Corona einprägsam gezeigt, dass die Mentalität eines „Immer mehr, immer weiter, immer reicher, immer perfekter, immer schneller, immer konsumorientierter“ ausgedient hat? Und doch ist wieder so oft von der Rückkehr zur „Normalität“ die Rede – politisch, wirtschaftlich, persönlich. Welche Normalität ist damit gemeint? Ist diese oft beschworene und erwünschte „Normalität“ wirklich so erstrebenswert, gut, nachhaltig und verantwortbar?

Corona hat uns Grenzen aufgezeigt – schmerzliche Grenzen im persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenleben. Eine übermobile Konsumgesellschaft, die in vielen Bereichen ständig auf noch mehr Wachstum setzt, gerät in Krise, um nicht zu sagen: Sie gerät aus den Fugen. Eine Zeit mit vielen: geschlossen, abgesagt, nicht möglich, findet nicht statt. Eine aufgezwungene Zeit des „ohne“. Alles nur ein Spuk, der möglichst schnell zu vergessen ist? Oder doch mehr: eine Einladung zum Innehalten, zum Hinterfragen, zu einem heilsamen Verzicht, zu einem Nicht-einfach-weitermachen wie bisher?

Viele Menschen haben erfahren, wie machtlos sie sind, wie leicht Pläne für das Leben durchkreuzt werden können, wie angewiesen wir aufeinander sind, wie sehr wir alle im selben Boot sitzen. Zugleich war es aber auch eine Gelegenheit, einen Gang zurückzuschalten, soziale Kontakte neu zu schätzen. Nichts ist einfach selbstverständlich. Eine starke Botschaft, auch unseren Lebensstil mit seinen vielen Forderungen zu überdenken – den eigenen, aber auch den der Gesellschaft, der Wirtschaft. Soll das alles umsonst gewesen sein? Dann ist uns nicht zu helfen. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber sagt: „Die eigentliche Tragik des Menschen besteht darin, dass er in jedem Augenblick seines Lebens umkehren kann und es nicht tut“.

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ ist der Dichter Friedrich Hölderlin überzeugt. Inmitten der Erfahrung von Unsicherheit, Einschränkung, Verzicht und schmerzlicher Trauer, haben viele Menschen auch erlebt, was Mut macht und hoffen lässt. Menschen rücken zusammen, zeigen Hilfsbereitschaft, ein Gefühl wechselseitiger Sorge und Verantwortung ist entstanden. Das ist es, was wir auch in Zukunft brauchen. Wir haben es in der Hand, ob Solidarität, Gemeinsinn, Gemeinwohl die Oberhand gewinnen oder aber ein verengter, heute weitverbreiteter Freiheitsbegriff, der sich zeigt in einem „Jeder für sich“. Freiheit kann nie auf die Formel „Ich will“ oder „Ich will nicht“ verkürzt werden. Freiheit ist nicht nur die Freiheit des Einzelnen. Das müsste eine einprägsame Lehre der Pandemie bleiben! Freiheit, die sich löst von Gemeinsinn und Rechtsnormen, die sich abkoppelt von Verantwortung, führt in die Sackgasse. Es geht nicht nur um persönliche Freiheit, sondern um eine Freiheit, die sich zeigt in der Verantwortung für einander und für die Schöpfung, die uns anvertraut ist! Einseitig individualistische, subjektivistische und liberale Konzeptionen werden uns nicht weiterbringen. Freiheit ohne Verantwortung ist weder gesellschafts- noch zukunftsfähig.

Vor allem in diesem 2. Coronajahr ist viel Vertrauen zerbrochen, gerade auch in die Institutionen. Wir brauchen dringend einen Ausweg, ein neues Miteinander! Ohne Vertrauen gibt es keine Hoffnung und keine Zukunft.

Wem es geschenkt ist als Christ dieses besondere Fest zu feiern, wünsche ich von Herzen: Der Herr möge wieder unter uns geboren werden. Er will zu tun haben mit unserem Leben, mit unseren Beziehungen, mit unserem Denken, Reden und Tun, mit unseren Entscheidungen, mit unserer Wirtschaft, mit unserer Politik. Weihnachten, das menschlichste aller unserer Feste, sagt uns: Wir brauchen keine perfekte Gesellschaft, sondern eine menschliche.

Gesegnete und frohe Weihnachten – Ihnen und Ihren Familien. Möge Weihnachten ein hoffnungsvolles 2022 nach Christi Geburt ankündigen – ein Jahr der Freiheit und der Solidarität, ein Jahr der Menschlichkeit und der Verantwortung füreinander.