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Hirtenbriefe

Fastenhirtenbrief 2024: "Warum bleibe ich?"

Bischof Ivo Muser

Aschermittwoch, 14. Februar 2024

Liebe Schwestern und Brüder in unserer Diözese Bozen-Brixen! 

Bei der Pastoraltagung in der Brixner Cusanus – Akademie habe ich am vergangenen 19. September 2023 diese Fragen gestellt: „Wie könnte unsere Ortskirche in 15 Jahren aussehen? Was sehen wir, wenn wir uns gedanklich ins Jahr 2038 begeben?“ Meine Antwort darauf fiel so aus: „2038 sind wirweniger, bescheidener und machtloser. Unsere Feiergemeinden sind radikal kleiner, die Kirche ist in der Gesellschaft weniger relevant und akzeptiert. Wir haben gelernt, diese Realität anzunehmen und im Licht des Evangeliums zu deuten. Wir haben verstanden, dass dies die Wirklichkeit ist, in der uns Gott begegnet, beruft und sendet. Je bescheidener und machtloser wir geworden sind: umso mehr haben wir erkannt, dass Gott unsere Stärke und unsere Kraft ist. Der Verlust von gesellschaftlichem Einfluss hat uns geholfen, eine Kirche der Seligpreisungen zu werden, die aus ihrer Schwäche ihre Kraft und Glaubwürdigkeit schöpft.“

In den vergangenen Monaten wurde ich oft auf diese Einschätzung und Vision angesprochen: erstaunt, nachdenklich, überrascht, kritisch, mit Zustimmung. Mit diesem Fastenhirtenbrief lade ich alle ein, sich mit dieser realistisch – hoffnungsvollen Vision auseinander zu setzen und sie mit der eigenen Lebens- und Glaubenserfahrung zu konfrontieren. Gerade die Fastenzeit will uns helfen und dazu ermutigen, einfacher, bewusster, bescheidener zu leben und dabei zu entdecken, dass dies auch einen Mehrwert bringt. Die Fasten- und Osterzeit (Aschermittwoch bis Pfingsten) ist jener Abschnitt des Kirchenjahrs, der uns in besonderer Weise zum Grund unserer Hoffnung hinführen will, den der Apostel Paulus so auf den Punkt bringt: „Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos“ (1 Kor 15,14). Diese Hoffnung lässt uns als österliche Menschen leben – auch heute und unter den heutigen Bedingungen.

Ja, wir werden weniger, bescheidener und machtloser

Es ist meine Überzeugung: Wir werden als Kirche in Südtirol viel kleiner werden, und wir werden in vielen Bereichen von vorne anfangen müssen. Viele Kirchengebäude sind für die heutigen Verhältnisse zu groß und wir können sie nicht mehr füllen. Viele Strukturen, die wir haben, werden nicht mehr tragen. Auch unsere 281 Pfarreien werden sich nicht alle halten lassen. Es wird Veränderungen geben in der Zusammensetzung und Gestaltung des Bischöflichen Ordinariates. Wir werden auch geschichtliche Privilegien verlieren. Wie wird es weitergehen mit dem Sonntag und mit unseren christlichen Feiertagen? Nur als „freie Tage“, bestimmt vor allem für den Konsum und die Unterhaltung, werden sie nicht überleben. Nicht nur Priester und Ordensleute werden viel weniger sein. Der Mangel an Gläubigen ist schon jetzt größer als der Mangel an Priestern und Ordensleuten und wird sich stark auswirken. Noch stärker als jetzt werden unsere christlichen Gemeinden und Gemeinschaften auf Freiwillige und Ehrenamtliche bauen. Vielleicht wird es auch ehrenamtliche Priester geben, die viel weniger abgesichert sind als heute. Noch viel mehr als jetzt werden Menschen persönlich entscheiden müssen, was ihnen der Glaube bedeutet und warum sie in der Gemeinschaft der Kirche bleiben.

Ich bin seit fast 13 Jahren Bischof unserer Diözese. Viel, sehr viel hat sich in diesen Jahren verändert. Das Gesicht unserer Diözese ist dabei, ein anderes zu werden. Vor allem die innere Beziehung vieler Menschen zum Glauben und zur Kirche ist einem großen Wandel unterzogen. Groß ist der Wandel in den Lebensformen, aber auch in den Feierformen. Es gibt immer mehr „freie Trauungen“ und „freie Begräbnisse“. Wir werden uns von manchem verabschieden müssen, was uns vertraut, wertvoll und vielleicht auch zu selbstverständlich war. Wir müssen nicht nur theoretisch, sondern ganz konkret zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen, auch getaufte, sich schon lange von der Kirche innerlich verabschiedet haben. Auch wenn es viele nicht gerne hören: Es gibt nicht nur eine Kirchenkrise, sondern eine Gotteskrise! Die Frage nach Gott, nach dem Gott Jesu Christi, und damit die wichtigste Frage, die die Kirche in dieser Welt zu stellen hat, steht heute auf dem Spiel.

Kirche hat Zukunft

Es ist wichtig, diese Situation anzuerkennen und anzunehmen, denn das sind die Bedingungen, die heute da sind. Es ist keine ideale Situation und auch kein Wunschbild: „klein, aber fein“ ist kein Idealbild von Kirche! Aber es ist die Welt, die wir heute vorfinden und in die wir gesandt sind. Dies anzunehmen, ist die Voraussetzung für jeden anderen Schritt.

Dabei wird die Kirche bestimmt nicht verschwinden: weder bei uns noch in Europa und schon gar nicht weltweit. Was die Kirche ausmacht, sind missionarische, gläubige Menschen, die jenseits von Traditionalismus und Progressivität entdecken: Uns ist Jesus Christus und sein Evangelium geschenkt und anvertraut – für diese Welt und über diese Welt hinaus. Kirche hat Zukunft, weil es Menschen gibt, die gerne, mit Freude und mit Überzeugung, Christen und Christinnen sind. Kirche hat Zukunft, wo es christliche Hoffnung gibt und die Fähigkeit, vom Glauben her in Dialog zu treten mit Gesellschaft und Kultur. Kirche hat Zukunft, wo Menschen den Sonntag und das Kirchenjahr feiern, wo Menschen einander in den freudigen und traurigen Momenten des Lebens begleiten und wo wir einen Sinn und eine Hoffnung jenseits des nur materiellen, irdischen Lebens bezeugen.

Träumen wir vielleicht immer noch von einer starken, einflussreichen Kirche nach unseren Plänen und Konzepten, mit abgesicherten, unveränderlichen Strukturen, mit der innerweltlichen Hoffnung, anzukommen und keinen Widerstand zu haben?

Die ersten christlichen Gemeinden, von denen uns das Neue Testament erzählt, waren nicht groß und strukturell abgesichert. Sie waren klein, eine Minderheit, gesellschaftlich am Rande und nicht selten sogar verfolgt. Aber sie waren groß in ihrer christlichen Hoffnung und mit einem deutlichen missionarischen Auftrag. Kirche heute, das ist meine Überzeugung, wird nicht überleben, wenn sie jedem Konflikt ausweicht. Eine Kirche, die in unserer komplexen, pluralistischen Gesellschaft keinen Widerspruch auslöst, eine Kirche, die nur gelobt werden möchte, weil sie das nachsagt, was alle sagen und die im Strom der Meinungen mitschwimmt, muss sich fragen, ob sie wirklich in der Spur des Evangeliums ist, in der Spur des gekreuzigten Auferstandenen. Ein nordafrikanischer Bischof, der im Kontext der christlichen Minderheit lebt und wirkt, sagte vor kurzem zu mir: „Wir sind eine zahlenmäßig sehr kleine Kirche, aber keineswegs unbedeutend. Wir versuchen, Salz und Licht zu sein für die Gesellschaft, in der wir als Minderheit leben. Und ich beneide die Kirchen in Europa nicht.“

Die Faszination des christlichen Glaubens

Das ist die österliche Hoffnung, die mich trägt und für die ich mich einsetze: Jesus Christus und der Glaube an ihn ist ein Geschenk für die Menschen – zu jeder Zeit neu! Dieser Glaube schenkt Hoffnung und Orientierung – im Leben und im Sterben. Dieser Glaube lebt in Menschen, die entdeckt haben, was uns alles geschenkt ist in Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, und durch seine Gegenwart in der Gemeinschaft der Glaubenden. Darum leben Christen und Christinnen nicht für sich selbst. Sie setzen sich ein für die Gesellschaft, in der sie leben. Sie setzen sich für andere ein, können sich selbst zurücknehmen, sie leben genügsam und gehen verantwortlich mit Mensch und Umwelt um. Sie verstehen sich als Missionare und Missionarinnen am eigenen Platz. Sie sind bereit, Zeugen und Zeuginnen jener Hoffnung zu sein, die sie erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15).

Paulus, der überragende Zeuge des christlichen Anfangs, sagt uns: Wir sind „zerbrechliche Gefäße“, als einzelne und auch als Gemeinschaft (vgl. 2 Kor 4,7). Das gilt für den Anfang der Kirche und auch heute. Aber bei aller Zerbrechlichkeit Träger eines Schatzes, d e s Schatzes: Jesus Christus. Um ihn geht es! Er, den wir in jeder Eucharistiefeier und besonders an Ostern verkünden als den Zerbrochenen, als den für uns Gescheiterten und Hingegebenen und der nur als der Gekreuzigte der Auferstandene ist! Die Nachfolge Jesu garantiert uns nicht ein schmerzfreies, bequemes und angepasstes Leben. Es gibt keine Erneuerung der Kirche am Kreuz vorbei.

In diesem Jahr 2024 sind es 60 Jahre seit der Errichtung unserer Diözese Bozen – Brixen, ein neues Kapitel auf dem Hintergrund einer langen, bewegten Geschichte. Ich erinnere an Bischof Joseph Gargitter, der bei der Predigt zum Abschluss der Diözesansynode 1970 – 1973 sagte: „Es geht um SEINE Kirche, nicht um eine Kirche nach unseren Maßstäben. Nur vom Kreuz her gibt es Fruchtbarkeit und Leben. Alle Reformen ohne neue Geistigkeit führen nur zu neuen leeren Formen.“

Den Glauben zeigen und leben

Es wird immer wichtiger werden, dass wir zu unserer christlichen Überzeugung stehen: nicht ideologisch, nicht rückwärtsgewandt und auch nicht mit dem Anspruch, Applaus zu bekommen. „Auf dein Wort hin: mit Freude und Hoffnung“, bleibt der gültige Auftrag unserer Diözesansynode von 2013 – 2015. Die Zeit einer „volkskirchlichen Gesellschaft“ ist endgültig vorbei. Jetzt ist die Zeit, über unsere Freude und unsere Hoffnung zu reden und unseren Glauben konkret in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Ganz besonders unterstreichen will ich die soziale Dimension des christlichen Bekenntnisses, ohne die sich der Glaube nicht christlich nennen darf: der Einsatz für den Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum Tod, die Nachbarschaftshilfe, das Ehrenamt, die Bereitschaft, soziale, karitative Projekte mitzutragen und zu unterstützen, das persönliche und strukturelle Teilen mit jenen, die auf Hilfe angewiesen sind, die Fähigkeit zum Verzicht in unserem Konsumverhalten und in unserer Einstellung zur Schöpfung. Christen und Christinnen wird man immer auch erkennen müssen als Menschen, die „keine Gewalt anwenden“ und „die Frieden stiften“ (vgl. Mt 5,5.9), inmitten einer verwundeten, polarisierten Welt. 

Warum bleibe ich?

Es gibt viele, die den Kopf schütteln und sagen: Wie kann man heute noch bleiben, bei Jesus und bei dieser Kirche? Was bringt das? Diese Reaktion kennt schon das Neue Testament: „Daraufhin zogen sich viele seiner Jünger zurück und wanderten nicht mehr mit ihm umher“ (Joh 6,66), heißt es im Johannesevangelium. Jesus versucht nicht, sie mit allen Tricks zu halten. Er appelliert an die Freiheit und Verantwortung der Menschen. Er fragt sogar den engsten Kreis um ihn: „Wollt auch ihr weggehen?“ (Joh 6,67). Darauf wagt Petrus das Bekenntnis: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“ (Joh 6,68-69).

Es wird immer Menschen geben, die aus dieser Überzeugung heraus ihr Leben gestalten – auch heute und ganz gewiss auch morgen: Jesus Christus ist unser Schatz! Er ist konkurrenzlos. Ihn suchen und brauchen wir. Ihn verkündigen und feiern wir. Was können wir Besseres tun, als ihn in unseren zerbrechlichen Gefäßen zu den Menschen zu bringen?

Verbunden in IHM und untereinander wünsche ich allen einen entschiedenen und hoffnungsvollen Weg hin zum ältesten, größten und wichtigsten Fest unseres Glaubens: zur Feier des Leidens, des Sterbens, der Grabesruhe und der Auferstehung unseres Herrn.