Es sind jetzt Menschen mit uns, die Missbrauch erfahren haben. Von einigen weiß ich es, aus persönlichen Gesprächen oder weil es öffentlich bekannt ist, von manchen weiß ich es nicht und manche haben vielleicht noch nie jemandem davon erzählt. Euch gilt mein erster Gedanke in diesem Beitrag. Ich hoffe, durch das, was ich jetzt sagen werde, euren Erfahrungen, euren Verletzungen und Bedürfnissen gerecht zu werden und euren Verwundungen nicht unbedacht neues Leid hinzuzufügen. Oft fällt es uns schwer, miteinander über erfahrenen Missbrauch ins Gespräch zu kommen. Die Angst, etwas falsch zu machen, die Angst vor neuen Verletzungen macht uns oft sprachlos. Ich selbst war als Jugendlicher im kirchlichen Kontext einer Grenzüberschreitung ausgesetzt - und habe erst vor weniger als einem Jahr zum ersten Mal meiner Frau davon erzählt. Die Sprachlosigkeit ist eines der Phänomene, die mit Missbrauch einher gehen - ich habe es selbst erlebt.
Mit dieser Sprachlosigkeit möchte ich in meinen Beitrag einsteigen. Es soll um die Veränderungen und Transformationen gehen, die sich für uns als Kirche aus der Auseinandersetzung mit Missbrauch ergeben. Was hat das mit Sprachlosigkeit zu tun? Auf der einen Seite geht es darum, die Sprachlosigkeit zu überwinden: der Film "(k)einen Ton sagen" von Georg Lembergh, der in diesen Tagen in den Kinos läuft, ist ein wichtiger Beitrag dazu. Auf der anderen Seite geht es darum – so paradox es jetzt klingen mag – die Sprachlosigkeit zu lernen. Es geht um jene Sprachlosigkeit, die wächst, wenn man versteht, dass es nicht zuerst um Antworten oder Lösungen geht, sondern in erster Linie um das Zuhören, das Da-Sein, das Mitgehen mit den leidenden Menschen – um das Aushalten der Sprachlosigkeit angesichts des Leidens, um das Aushalten der Sprachlosigkeit an der Seite der Betroffenen von Missbrauch. Um ein biblisches Bild zu verwenden: es geht darum, mit Jesus im Garten Getsemani zu wachen. Nichts anderes hat sich Jesus von seinen Jüngern im Angesicht des Kreuzes gewünscht: dass sie mit ihm wachen und beten, mit ihm bleiben. Auch ohne Worte, sprachlos, aber wach und aufmerksam. Sprachlosigkeit kann manchmal positiv bedeuten, nicht auf alles eine Antwort zu haben, aber präsent zu sein, nicht vollkommen zu sein, aber miteinander unterwegs und veränderungsbereit zu bleiben.
Das ist auch schon die Transformation, die ich für uns als katholische Gemeinschaft am Horizont sehe. Wir haben uns in Vergangenheit als "societas perfecta" verstanden und zelebriert. Wir glaubten, alle Antworten zu haben, wähnten uns sicher in der Gewissheit, durch ein straff organisiertes, von Gott selbst legitimiertes, rechtsverbindliches System, das Glauben und Leben regelt. Wir waren die, die alle Antworten hatten. Wir wussten, wer Gott ist, wer die Menschen sind, wer im Heil ist und wer im Unheil. Wir fühlten uns sicher. Wir haben geurteilt und verurteilt.
Heute wissen wir: wir waren geblendet. Wir wussten nicht Bescheid. Unsere Unfehlbarkeit war eine prachtvolle Fassade, in deren Ritzen und verborgenen Ecken sich der Missbrauch einnisten konnte. Wir haben vertuscht und geschwiegen, um die Fassade aufrecht zu halten. Wir hatten Angst vor dem, was die Fassade verbirgt, und haben sie darum umso mehr aufrecht erhalten.
Dass diese Fassade nicht nur Risse bekommen hat, sondern in sich zusammenfällt, ist für uns als Kirche, als Gemeinschaft der Gläubigen ein großer Segen. Das Zusammenbrechen der Gewissheiten führt uns zurück an die Wurzeln, an das, was Glauben im Kern ausmacht, und erlaubt uns, von hier her neu zu starten. Wir werden auf die Kernerfahrung unseres Glaubens zurückgeführt und können von hier her neu ansetzen. Worum geht es dort? Die Urerfahrung des Glaubens ist nicht die menschliche Sicherheit, das Bescheid-wissen, das Alles-einordnen-können. Es ist gerade umgekehrt die Erfahrung der radikalen menschlichen Schwäche und, mitten in dieser, die Gegenwart des rettenden Gottes, die Erfahrung der Liebe, die zwar nicht alles erklärt, aber alles hofft und alles trägt. Es geht um die Erfahrung des Exils, des Karfreitages, um die Erfahrung des Moments, in dem die menschlichen Lösungen und Konzepte in sich zusammenfallen. Der Glaube entsteht in diesem Moment des menschlichen Scheiterns durch die Erfahrung, dass Gott in seiner ungeschuldeten Liebe da ist und rettet. Exil und Exodus, Karfreitag und Ostern: immer geht es im Kern des christlichen Glaubens darum, dass Gott den Schrei der Armen hört und die Betroffenen von Gewalt und Unrecht, die Trauernden und Leidenden aufrichtet. Gott offenbart sich in der Heilgeschichte mit diesem Namen: Jahwe, ich bin da! Oder in den Worten des Evangelisten Johannes: „Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16)
Und das ist in Folge unser Auftrag als Kirche: Gottes Präsenz zu bezeugen, an der Seite der Menschen, vor allem der Armen und Leidenden, indem wir, stellvertretend für ihn, da sind. Vielleicht sprachlos, vielleicht selbst verunsichert, aber präsent. So umschreibt auch Jesus seinen Auftrag mit dem Prophetenwort: "Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe." (Lk 4,18-19) Jesus wird nicht müde, diesen seinen Auftrag mit dem Leiden und dem Kreuz in Verbindung zu bringen, das ihn erwartet. Selbst Jesus steht nicht als unverwundbarer Held an der Seite der Schwachen. Im Gegenteil: zum Retter wird er gerade in seiner Verletzlichkeit, in seiner Angreifbarkeit, ja in seiner Erfahrung der Gottesferne und des Dunkels am Kreuz. Es ist unser Auftrag als Kirche, Gottes Liebe in unserer Welt zu bezeugen. Wenn wir das im Sinne Jesu tun, dann brauchen wir nicht mächtig und stark zu sein, sondern vielmehr wird für uns gelten, was auch der Apostel Paulus von sich sagt: „deswegen bejahe ich meine Ohnmacht… denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2Kor 12,10)
Hier liegt der Kern der Reformbemühungen der Kirche, die wir in diesen Tagen erleben. Die von Papst Franziskus ausgerufene Weltsynode, die soeben in Rom zu Ende gegangen ist, hat genau diesen Hintergrund. Es geht um eine Reform der Kirche unter dem Stichwort der Synodalität. Dieses Wort – das Insidern schon mehr als geläufig ist, aber vielen anderen Menschen noch neu sein dürfte – meint wörtlich das "gemeinsame Vorangehen". Es bezieht sich zugleich auf den Auftrag der Kirche und auf ihre innere Organisation und Kultur. Der Auftrag der Synodalität ist, uns nach dem Vorbild Jesu an die Seite der Armen, der Trauernden, der Betroffenen von Unrecht und Missbrauch zu stellen und mit ihnen, an ihrer Seite zu gehen und so Gottes Liebe zu bezeugen. Dieser Sendung zu den Menschen muss eine innere Organisation und Kultur entsprechen, die von Gemeinschaft und Teilhabe geprägt ist. Denn nur wenn die innere Organisation und Kultur der Sendung entsprechen, die wir von Jesus Christus empfangen haben, können wir dieser Sendung zu den Menschen auch gerecht werden. So war der Skandal des Missbrauches in seinen vielfältigen Formen auch expliziter Ausgangspunkt des breit angelegten synodalen Prozesses. Eine Organisation, die Missbrauch begünstigt und vertuscht, entspricht sicher nicht dem Auftrag Jesu und ist ein Zeugnis gegen das Reich Gottes. Die Aufarbeitung von Missbrauch, und noch mehr die synodale Reform der Kirche sind somit wichtiger Teil des Zeugnisses von Gottes Liebe, des Auftrags der Kirche. Umgekehrt gilt auch: wenn die Kirche ein guter Ort von guten Beziehungen ist, wenn sie ein sicherer Ort für vulnerable Menschen ist, wenn ihre Organisation und Kultur von Beteiligung, gegenseitigem Dienst und gemeinsamer Verantwortung geprägt ist, dann ist dies bereits ein erstes und wichtiges Zeugnis, das wir von Gottes Liebe geben.
Die Ergebnisse der Synode sind bereits kirchliches Lehramt, und müssen jetzt umgesetzt werden. Manche Kommentare zeigen mit den Ergebnissen enttäuscht. Die Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch hätte stärker benannt werden sollen. Ich möchte hingegen behaupten, dass wichtige Schritte eingeleitet wurden. Es gibt zwei Arten wie ein System auf Missbrauch reagieren kann. Die eine ist die Optimierung, die andere ist die Transformation des Systems. Unter Optimierung verstehe ich den Versuch, Prävention als zusätzliches Element in ein System zu einzuführen. Das System, das grundsätzlich gleich bleibt, integriert den Aspekt der Prävention durch Regeln und Sanktionen. Das Risiko dabei ist, dass lediglich Symptome bekämpft werden, während auf der Ursachenebene der Nährboden für Missbrauch weiter besteht. Also gilt es, tiefer zu fassen und eine Transformation in Gang zu setzen, die neu bei der Sendung der Kirche und ihrem Auftrag ansetzt. Es gilt, das System selbst zu transformieren, und nicht nur darum, die Symptome zu bekämpfen. Betrachtet man die Ergebnisse der Weltsynode aus dem Blick einer Symptombekämpfung, kann man die Resultate durchaus als mager bezeichnen. Betrachtet man sie aus dem Standpunkt der Transformation, d.h. der grundlegenden Änderungen am System selbst, wird hier Wesentliches sichtbar. Die Veränderung, die in Gang kommt, wird die Kirche nicht nur zu einem sichereren Ort für vulnerable Personen machen. Vielmehr werden wir als Kirche in der Treue zu unserer Sendung wachsen, die darin besteht, das bleibende Wort Gottes in je neuen Formen im Wandel der Zeit zu bezeugen. Die Reformen dienen unserem Auftrag, mit den Menschen unterwegs zu sein, als prophetische Stimme der Liebe Gottes inmitten der Freuden und Hoffnungen, der Trauer und der Angst der Menschen unserer Zeit.
Welches sind nun die Veränderungen, die durch die Synode in Gang gesetzt werden? Ich greife hier vier Punkte heraus, die mir wesentlich erscheinen. Der erste Punkt ist das erneuerte missionarische Bewusstsein. Mission hat in unseren Breiten oft einen bitteren Nebengeschmack, der weitgehend dem kolonialistischen Missverständnis von Mission geschuldet ist. Von der Synode kommt eine erfrischende Neubewertung der Mission, des Auftrags der Kirche. Papst Franziskus hat dies beim Weltjugendtag in Lissabon mit dem Slogan „alle, alle, alle“ – „todos, todos, todos“ auf den Punkt gebracht. Alle Menschen, ausnahmslos, sind Gottes geliebte Kinder. In jeden Menschen ist eine unverlierbare Würde gelegt, weil jeder Mensch von Gott gewollt und bedingungslos geliebt ist. Gottes Liebe ist in jedem Menschen bereits am Werk, auch wenn ich dies nicht immer unmittelbar erkenne. Darum ist Mission ein dialogisches Geschehen. Die erste Haltung der Mission ist das Hören auf das, was Gottes Geist uns durch die Menschen, denen wir begegnen, zu sagen hat. Die Sendung der Kirche folgt aus einer Haltung der freudigen Suche nach Gott. Gott suchen, mit den Menschen, die Seite an Seite mit uns gehen. Menschen begegnen, mit ihnen das Leben teilen, im Vertrauen darauf, dass in dieser Begegnung Gott bereits am Werk ist. Das bedeutet hier und heute missionarisch sein.
Eng verbunden mit diesem ersten Punkt ist ein zweiter: Alle Getauften, also nochmals „alle, alle, alle“ teilen diesen Auftrag und diese Verantwortung. Noch viel deutlicher als das zweite Vatikanische Konzil setzt das Abschlussdokument der Synode bei der gemeinsamen Taufberufung aller Christinnen und Christen an. Es geht darum, die gemeinsame Verantwortung aller Getauften für das Sein und Wirken der Kirche neu in Erinnerung zu rufen und umzusetzen: in der Art und Weise, wie Verantwortung geteilt und Prozesse gestaltet werden. Alle Dienste und Aufgaben in der Kirche dienen letztlich der einen gemeinsamen Sendung. Die Teilhabe aller Getauften an der gemeinsamen Sendung ist der Kernpunkt der synodalen Erneuerung der Kirche.
Daraus folgt ein dritter Punkt: nachdem alle Getauften gemeinsam an der Sendung teilhaben, die Christus der Kirche anvertraut hat, sind alle Entscheidungen synodal, d.h. gemeinsam zu treffen. Die Weltsynode war als Prozess schon eine gelungene Umsetzung dieses Prinzips. Ausgehend von den kleinsten Einheiten vor Ort wurde ein Weg der Beteiligung gegangen, mit weltweiter Einbindung der Gläubigen. Was hier auf weltkirchlicher Ebene eingeübt und begonnen wurde, gilt nun als Standard für Entscheidungsprozesse der Kirche auf allen Ebenen. Entscheidungen fallen nicht einsam, sondern sind Frucht einer gemeinschaftlichen geistlichen Unterscheidung, in der alle mit einbezogen werden.
Der vierte Baustein der synodalen Erneuerung ist die Pflicht zu Transparenz und Rechenschaft. Dieser Punkt ist bisher kaum systembildend gewesen. Entsprechend erwarte ich mir hier einen wichtigen Kulturwandel. Auf allen Ebenen führt die Synode die Verpflichtung zu Rechenschaft und Transparenz ein. Damit wird das letzte Element eines monarchischen Leitungsverständnisses in der katholischen Kirche ausgeräumt. Ich mache ein Beispiel, damit es verständlicher wird: wir haben Pfarrgemeinderäte bisher als beratende Gremien verstanden, die den Pfarrer in seiner Leitungsaufgabe unterstützen. Zum einen klärt die Synode nun, dass Beratung gemeinsame Unterscheidung bedeutet und ihr Ergebnis verpflichtet. Zum anderen führt sie eine Rechenschaftspflicht des Pfarrers gegenüber dem Pfarrgemeinderat bzw. gegenüber der Pfarrgemeinde ein. Dies gilt analog für alle Leitungsdienste in der Kirche, seien dies Priester oder Laien. Auch der Seelsorgeamtsleiter wird künftig mehr und strukturierter über seine Arbeit Rechenschaft geben müssen.
Es wären sicher noch mehr Punkte zu nennen. Aber schon die vier genannten Punkte stehen für eine Entwicklung, die die Kirche immer mehr zu einem sicheren Ort für vulnerable Personen machen kann, indem sie eine neue Dynamik in ihrer Sendung freisetzt. Wesentlich ist dabei der Abbau des Klerikalismus. Darunter verstehen wir Haltungen und Systeme, in denen sich Macht auf wenige Personen konzentriert, auf Priester oder Laien (und wohlgemerkt auch Laien!) die keiner Kontrolle unterworfen sind und die moralisch überhöht werden. Ein klerikales System muss die Mächtigen schützen, um ihre moralisch überhöhte Aura zu wahren, von allen Seiten. Auch die einfachen Leute stützen den Klerikalismus, denn der moralisch überhöhte Kleriker ist Projektionsfläche und Identifikationsfigur für alle. Von daher die Spirale des Schweigens und Wegschauens, die mit Missbrauch so oft einhergeht. In einer synodalen Kirche rücken die gemeinsame Verantwortung, das gemeinsame Unterscheiden und die gegenseitige Transparenz und Rechenschaft in den Mittelpunkt.
Voraussetzung dafür ist, dass die Fehlbarkeit der Menschen und der Institutionen von Anfang an in Rechnung gestellt und benannt wird. Vielleicht könnte man die synodale Transformation der Kirche auch so beschreiben: wir sind eine Gemeinschaft, in der mit der Verletzlichkeit und mit der Fehlbarkeit gerechnet wird, als „conditio humana“, in die hinein wir Gottes Liebe bezeugen dürfen. Wir pflegen ein Miteinander auf Augenhöhe, in dem niemand einen Grund hat, sich über andere zu erheben und in dem Fehler offen benannt und gemeinsam bewältigt werden. Dem entsprechen die Leitungsprinzipien des gemeinsamen Unterscheidens, der Transparenz und der Rechenschaft.
Ich komme zum Schluss. In meinem Ehrenamt leite ich einen Zirkusverein. Dort arbeiten wir mit Kindern und Jugendlichen und in verschiedener Weise gehört Körperkontakt dazu. Darum haben wir uns auch dort mit dem Thema Missbrauch auseinandergesetzt. Das Ergebnis: die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen hat spürbar an Qualität gewonnen, sie ist schöner geworden, freier, freudiger. Dafür zu sorgen, dass unser Verein ein möglichst sicherer Ort für Kinder und Jugendliche ist, hat viel mehr an Qualität eingebracht, als es uns Mühe gekostet hat. Genau das erwarte ich mir von den Reformen im kirchlichen Bereich. Wenn wir uns bemühen, ein sicherer Ort für vulnerable Menschen zu sein, dann lohnt sich unsere Mühe doppelt. Genau das hat uns auch Jesus mitgegeben. „Was du den Geringsten meiner Schwestern und Brüder getan hast, das hast du mir getan.“ Wo wir einen sicheren Raum für vulnerable Menschen schaffen, da füllt Gottes Geist diesen Raum und wir können Seine Hoffnung und Seine Freude erfahren, Christus begegnen.