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Vorträge & Ansprachen

Vorweihnachtlicher Besuch im Südtiroler Landtag 2022

Bischof Ivo Muser

Mittwoch, 14. Dezember 2022

Bozen. Landtag

Stimata Presidente del Consiglio Provinciale, sehr geehrter Herr Landeshauptmann und geehrte Mitglieder der Landesregierung, stimati Consiglieri Provinciali, sehr geehrte Damen und Herren, gentili Signore e Signori!

Schon Anfang November habe ich in einem Interview einer Nachrichtensendung den Satz gehört: „Die Politik sollte sich anstrengen und einsetzen, um Weihnachten zu retten“. Allen ist klar, von welchem Weihnachten hier die Rede ist. Bei einer solchen Aussage regt sich in mir Widerstand, mehr noch, eine solche Aussage ärgert mich. Ich hoffe, dass man mir diesen Widerstand und diesen Ärger zugesteht, weil eine solche Aussage diametral dem entgegengesetzt ist, was Weihnachten bedeutet. Nein, wir müssen Weihnachten nicht retten. Weihnachten rettet uns!

Der Perspektivenwechsel, um den es an Weihnachten geht, ist ein ganz anderer: Sicher nicht die Mentalität eines ständigen „Mehr“ in unserer Lebensart, in unserem Konsumverhalten, in unseren Forderungen. Weihnachten und damit die christliche Alternative zu einer Mentalität des „Immer mehr, immer höher, immer weiter und immer schneller“ ist eine ganz andere: Gott ist an Weihnachten nicht „mehr“ geworden, sondern „weniger“. Und dieses Herabsteigen, dieses Menschwerden, dieses freiwillige und bewusste Verzichten für uns entlastet und rettet – wenn wir es wollen und zulassen.

In der Auseinandersetzung mit Corona habe ich mir oft die Frage gestellt: Ist das alles nur ein Spuk, von dem wir hoffen, dass er bald wieder vorbei und vergessen ist, um möglichst schnell zur gewohnten Tagesordnung überzugehen, damit alles wieder so wird, wie es war? Oder ist das alles doch mehr: eine Einladung zum Innehalten, zum kritischen Hinterfragen, zum Umdenken, zu einem Nicht-einfach-weitermachen wie bisher?

Erwarten wir die „Rettung“ immer noch von unserem Streben nach mehr und noch mehr?

Längst wissen wir – es ist in aller Munde und es wird uns bestätigt von allen Seiten - dass unser Lebensstil der Erde und dem Klima arg zusetzt. Da ist etwas aus dem Lot geraten und die Konsequenzen sind nicht mehr wegzudiskutieren. Grenzenloses Wachstum und begrenzte Ressourcen gehen eben nicht zusammen. Wenn wir das nicht einsehen wollen, werden wir gezwungen sein, es einsehen zu müssen.

Wachstum, Bruttoinlandsprodukt, Wertschöpfung, Nächtigungszahlen, Fachkräftemangel dürften die vermutlich am häufigsten verwendeten Begriffe sein. Alles muss wachsen, jedes Jahr. Und wenn das Wachstum nicht deutlich und entschieden ausfällt, wird eine düstere Stimmung erzeugt und verbreitet. Die negativen Folgen eines rein ökonomisch ausgerichteten Mentalitäts- und Denkansatzes werden sehr selten angesprochen.

Coronapandemie, Klimawandel, Krieg in der Ukraine, Energie- und Rohstoffengpässe haben unser viel gepriesenes Erfolgsmodell sehr anfällig gemacht. Globalisierung und Digitalisierung haben einem Lebensstil Vorschub geleistet, der alles andere als nachhaltig ist. Jetzt fangen wir an zu merken, das Leben auf Pump und ständig wachsenden Ansprüchen, auf Kosten der Natur und künftiger Generationen stößt an natürliche Grenzen. An Grenzen, die nicht mehr geleugnet, nicht mehr ausgeblendet und nicht mehr kleingeredet werden können.

Wir werden um das Thema „Weniger“, um das Thema „Verzicht“ nicht herumkommen. Nur: ein Verzicht, der nicht auch wehtut, ist kein Verzicht und wird nicht gute Schritte in eine nachhaltige Richtung setzen. Die Vorstellung, mit etwas weniger Wohlstand auszukommen, ist alles andere als populär. Die Umfrage bzw. die Studie der EURAC, die vor wenigen Wochen präsentiert wurde, spricht eine klare Sprache und hält uns einen Spiegel vor Augen: Umdenken und Verzicht grundsätzlich ja, aber nicht, wenn ich mich einschränken muss!

Verzicht wird meistens mit Verlust gleichgesetzt. Die Chancen und Möglichkeiten des Verzichtes werden ausgeblendet oder sogar als unrealistisch verdächtigt. Ein fast grenzenloses Angebot an Waren und Dienstleistungen, Liefergarantien rund um die Uhr haben dem alten Wachstumsmodell großen Schwung verliehen. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, in einem überschaubaren Zeitraum Wirtschaft, Mobilität und nicht zuletzt eigene Prioritäten auf echte Nachhaltigkeit umzupolen.

Selbstverständlich muss beim Verzicht genauer hingeschaut werden. Nicht alle können gleich belastet werden. Verzicht muss dort Grenzen haben, wo die tägliche Grundversorgung nicht mehr sichergestellt ist. Besserverdienende, Vermögende sind stärker zu belasten, damit Menschen am unteren Ende der Einkommensentwicklung geholfen werden kann. Nur wenn der Umbau sozial verträglich gestaltet wird, kann er auch gerecht sein. Ein Auseinanderfallen der Gesellschaft muss schon aus demokratiepolitischen Überlegungen unter allen Umständen verhindert werden.

Damit die angepeilte Transformation auch tatsächlich gelingen kann, braucht es Politiker und Politikerinnen, die den Ernst der Lage den Bürgern und Bürgerinnen gut erklären und die bereit sind, falls nötig auch unbequeme, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Ohne klare Ziele und den Willen, diese auch umzusetzen, können Wirtschaft und Gesellschaft nicht zukunftstauglich gestaltet werden. Wir Bürger und Bürgerinnen, aber auch die Unternehmen müssen lernen, mit deutlich weniger auszukommen. Politik, ganz im Sinne des Auftrags für das Gemeinwohl, hat jene zu schützen und zu unterstützen, die auf Hilfe angewiesen sind, und alle anderen in die Schranken zu weisen, die dank ihrer Einkommen und Vermögen nicht mitmachen wollen.

Niemand kennt die genaue Antwort auf all die Fragen, die uns herausfordern. In einer Demokratie muss immer um den rechten Weg gerungen werden. Dabei gilt es aber einige Wegmarken zu beachten: Die Gesellschaft muss menschlich bleiben! Der Sinn für die Allgemeinheit ist an die Stelle von Egoismus, von Lobby – und Anspruchsdenken zu setzen. Es bleibt wichtig, mit der Sprache verantwortlich umzugehen. Populistische Sprache nimmt nicht nur Sorgen der Menschen auf, sie bedient auch häufig Vorurteile und verstärkt Ängste. Ohne Selbstbeschränkung und Selbstdisziplin kann weder ein einzelner noch ein Gemeinwesen leben.

Wir leben in einem reichen Land und wir dürfen dankbar dafür sein, dass wohl noch nie in der Geschichte unserer Heimat es so vielen Menschen finanziell und materiell so gut ging wie heute. Gleichzeitig erleben wir auch in Südtirol: Materieller Wohlstand und Konsumsteigerung allein haben die Menschen nicht zufriedener gemacht. Anlass zu Sorge bietet die Einstellung, wo vor allem in Anspruchskategorien gedacht wird. Unsere Gesellschaft hat sich zu einer fordernden, zu einer immer mehr fordernden Gesellschaft entwickelt. Dankbarkeit und Maß sind für viele keine Leitwerte.

Viele haben sich daran gewöhnt, nur mehr zu fordern und immer mehr zu fordern! Eine solche Lebenssicht verstellt den Blick auf Formen der Armut, die es auch in unserem Land gibt, vor allem auf die Formen neuer Armut, die Menschen und Menschengruppen getroffen hat und trifft.

Nach christlichem aber auch nach humanistischem Verständnis - und das hat viel mit Weihnachten zu tun -gehört zum Menschsein der Schutz der Schwachen, wer immer diese sind. Wer den Schutz der Schwachen aufgibt, gibt die Identität des Menschen preis. Der Schutz der Schwachen ist heute stark gefährdet. Seit einigen Jahren lässt sich ein ungenierter Kult des Starken beobachten, insbesondere im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich. Es hat sich ein Umgang mit den schwachen Gliedern der Gesellschaft breitgemacht, für den es bis vor kurzem noch moralische Hemmungen gab.

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang das zu wiederholen, was mich beim einsamen Erfrierungstod des jungen Ägypters vor wenigen Tagen so betroffen gemacht hat: „Besonders tragisch finde ich seinen Tod in diesen vorweihnachtlichen Tagen. Unsere Stadt und unser Land sind voll von Touristen; sie alle sind willkommen und sie alle bringen Geld. Für sie alle ist Platz. Für diesen jungen Mann aber findet sich kein Platz. Er stirbt einen einsamen und bitterkalten Tod. Dieser tragische Tod sollte gewiss nicht instrumentalisiert werden. Dieses Ereignis ist viel zu traurig und zu beschämend, um damit polemisch auf andere zu zeigen. Aber dieser Tod muss uns alle aufrütteln, persönlich und alle Institutionen: Für solche Menschen ist in unserer Gesellschaft kein Platz, weil sie nicht vorgesehen, nicht erwünscht und nicht willkommen sind. Sie bringen nichts und mit ihnen kann man kein Geld verdienen. Sie stören nur – vor allem auch inmitten des vorweihnachtlichen Konsum- und Erlebnisbetriebes.“

Das „Originalweihnachten“ sagt uns: Gott ist nicht „mehr“ geworden, sondern „weniger“. Weniger ist mehr: das ist die rettende, entlastende Zusage und auch der bleibende Auftrag von Weihnachten.

Die Politik kann ganz bestimmt nicht alles leisten und es ist ungerecht und eine Alibimentalität, sie für alles verantwortlich zu machen. Es gibt eine Verantwortung der Einzelnen, die eben nicht abgeschoben, delegiert und von anderen eingefordert werden kann. Wir alle sind gefragt, wenn es darum geht, weniger zu fordern, mehr zu teilen und bewussten Verzicht nicht als Verlust, sondern als Stärke und Gewinn zu verstehen.

Ich wünsche Ihnen zum Weihnachtsfest und zum Jahreswechsel den Mut, den Willen und die Kraft, das Gemeinwohl höher zu schätzen als die Interessen einzelner und bestimmter Kreise – trotz des Drucks der öffentlichen Meinung und kommender Wahlen. Ich wünsche Ihnen den Mut zu einer Politik, die von den Schwachen und Nicht - Einflussreichen her denkt und handelt. Es braucht eine Politik, die von der Verantwortung für kommende Generationen her Maßnahmen setzt.

Ich weiß, dass all das schnell gesagt und nur mit großem Einsatz erreicht und durchgesetzt werden kann. Trotzdem bitte ich Sie um diesen Einsatz. Ich bitte Sie um die Überzeugung, die sich verbindenden und einigenden Werten verpflichtet weiß und die den Mut hat, sich für einen notwendigen und gerechten „Verzicht“ einzusetzen.

„Die Politik sollte sich anstrengen und einsetzen, um Weihnachten zu retten“. Darum bitte ich Sie nicht.

Auf einer Weihnachtskarte, die ich vor wenigen Tagen bekam, stand der Wunsch: „Mach es wie Gott und werde Mensch.“ Ich wünsche Ihnen für Ihren wichtigen, unverzichtbaren, politischen Auftrag diese Überzeugung: Wir arbeiten dafür, dass unsere Gesellschaft menschlich bleibt – heute und morgen. Gesegnete, hoffnungsvolle und frohe Weihnachten!