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Hirtenbriefe

"An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen…"

Ivo Muser, Bischof von Bozen-Brixen

Hirtenbrief zum 3. Fastensonntag, Tag der Solidarität, 15. März 2020

 

Liebe Schwestern und Brüder in unserer Diözese Bozen-Brixen!

„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr!, Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut“, sagt Jesus in der Bergpredigt
(Mt 7,20-21)

Im 1. Johannesbrief stehen die aufrüttelnden Worte: „Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder und seine Schwester hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder und seine Schwester nicht liebt, die er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder und seine Schwester lieben“ (vgl. 1 Joh 4,19-21). Und der Jakobusbrief mutet uns die provozierenden Worte zu: „Was nützt es, meine Brüder und Schwestern, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten? … So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat … Denn wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot“ (Jak 2,14.17.26). Für Jesus und für alle, die sich auf ihn berufen, gehören Gottesliebe und Nächstenliebe untrennbar zusammen. Weil Gott nichts anderes als Liebe ist, kann er nur durch Liebe bezeugt und verehrt werden: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16b), so fasst der 1. Johannesbrief zusammen, was christlicher Glaube bedeutet. Maßstab dieser Liebe ist Jesus selber. Er ist die Liebe Gottes in Person, die Solidarität Gottes mit uns Menschen.

Liebe zeigt sich als Solidarität

 

Im Schauen auf Jesus, in dem die Liebe Gottes Mensch geworden ist bis zur äußersten Konsequenz des Kreuzestodes, wird Christinnen und Christen deutlich: Es gibt keine Alternative zur Liebe! Jesus, der Sohn Gottes, ist Mensch mit den anderen und für die anderen. In ihm zeigt sich Gottes Liebe als Solidarität - mit uns und für uns! Solidarität ist ein recht junger Begriff, der aber dem Inhalt nach aus der Tradition des christlichen Bekenntnisses kommt. Die Ausrichtung wirtschaftlichen Handelns an der Logik des Marktes führt zu drastischen Einschränkungen der Solidarität und fördert zudem Existenzängste. Dem gegenüber stelle ich mit Genugtuung und Dankbarkeit fest: Es gibt zahlreiche Initiativen im ehrenamtlichen und freiwilligen Bereich und neue soziale Bewegungen, die für ein produktives Miteinander in der Gesellschaft eintreten. Solidarität gehört für Christinnen und Christen zu den grundlegenden Tugenden der Weltgestaltung. Die Motivation, sich an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen, beziehen Glaubende aus dem biblischen Gottes- und Menschenbild.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der Konstitution "Kirche in der Welt von heute" den Versuch unternommen, den gesellschaftspolitischen Auftrag der Glaubenden auf eine neue Grundlage zu stellen, die der modernen Welt Rechnung trägt. Der Schutz der Schwachen, der Umgang mit Fremden, der Widerstand gegen Entsolidarisierungstendenzen, die Orientierung des Gewissens an Gerechtigkeit und Gemeinwohl und der Respekt vor der Freiheit der anderen sind nur einige dieser Anliegen.

Solidarität im persönlichen, sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Alltag ist nicht Theorie, sondern konkretes Tun! Solidarität ist nicht nur eine „Option“, sondern Nachfolge Jesu Christi! Der Weg zu Gott führt zum Mitmenschen; die Liebe zu Gott drückt sich aus in der Liebe zum Nächsten. Solidarität ist für Christen und Christinnen ein lebenslanges anspruchsvolles Programm in der Schule Jesu und seiner Botschaft. Der Schlüssel dazu liegt in der Einsicht, dass wir in den meisten Belangen des Lebens voneinander abhängig sind. Damit steht Solidarität jeder Form egoistischer Selbstfindung, Selbstverwirklichung und Selbstbewahrung entgegen. Solidarisch sein heißt füreinander einstehen. Grundform der Solidarität ist die Bereitschaft zum Teilen. Solidarität ist die Identitätskarte von Christinnen und Christen. Nicht Schlagworte wie "Wir zuerst" machen unsere Welt besser, sondern die Überzeugung: Wir brauchen einander. Nur gemeinsam mit den anderen wird das eigene Leben gelingen. Wer teilt, wird nicht ärmer, sondern reicher. Ich - du - wir gehören zusammen! Der heilige Vinzenz von Paul, Gründer der Barmherzigen Schwestern, auf den sich auch die Vinzenzkonferenzen berufen, ist überzeugt: „Es genügt nicht, Liebe im Herzen zu haben und in Worten zu äußern. Sie muss in unseren Taten sichtbar werden. Liebe ist Pflicht. Erbarmen ist das innerste Geheimnis Gottes“.

Selbstverpflichtungen

Im Jahr 1992 hat Bischof Wilhelm Egger den Sozialhirtenbrief „Denkt an die fünf Brote … Unsere Sorge für Mensch und Schöpfung“ veröffentlicht. Dieses Schreiben war das Ergebnis eines dreijährigen diözesanen Weges der Auseinandersetzung mit den Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Zehn Jahre später, 2002, folgte der Hirtenbrief „Vom Alpha zum Omega, Sozial-Alphabet für die Diözese Bozen-Brixen"; mit Selbstverpflichtungen der katholischen Vereine und Verbände. Weil sich seither viel verändert hat und sich neue Herausforderungen ankündigen, wurden die Verbände und die geistlichen Bewegungen (movimenti) eingeladen, ihre Selbstverpflichtungen neu zu formulieren. Allen, die sich daran beteiligt haben, gilt mein aufrichtiger Dank. Die aktualisierten Selbstverpflichtungen finden sich im Anhang zu diesem Hirtenbrief.

Not hat viele Gesichter - Solidarität auch!

Der Dienst am Mitmenschen hat unterschiedliche Dimensionen, die einander ergänzen:

a) der persönliche Dienst - von Angesicht zu Angesicht;

b) der organisierte Dienst (Diözesancaritas, Vereine, Verbände, geistliche Bewegungen);

c) der politische Dienst, der sich für das Gemeinwohl stark macht und Widerstand leistet gegen strukturelles Unrecht.

Es gilt, eine Kultur der Aufmerksamkeit und des Helfens zu schaffen, damit Sorge und Verantwortung füreinander, Achtsamkeit und Teilen nicht leere Worte bleiben, sondern zu konkreten Taten werden.

a) Der persönliche Dienst

Papst Franziskus gibt die Richtung vor: Von der Gleichgültigkeit zur Anteilnahme, vom Wegschauen zur konkreten Hilfe, denn Nächstenliebe kann nicht delegiert werden. Es besteht die Gefahr, dass der soziale Einsatz wegen der komplexen Zusammenhänge zu sehr an professionelle Organisationen übertragen wird.

Es braucht ein „hörendes Herz“ (1 Kön 3,9), um das der junge König Salomo bittet, ein wachsames und offenes Herz, das die Not sieht und danach handelt. Papst Benedikt XVI. schreibt 2005 in der Enzyklika „Deus caritas est“: „Berufliche Kompetenz ist eine erste, grundlegende Notwendigkeit, aber sie allein genügt nicht. Es geht ja um Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die Zuwendung des Herzens“ (31).

Was von motivierten und engagierten Einzelpersonen getan werden kann, soll diesen nicht aus der Hand genommen und einer übergeordneten Gruppe übertragen werden; auch soll, was von einer kleinen Gruppe geleistet werden kann, nicht von einer größeren Institution übernommen werden. Es geht vielmehr darum, dass die größere Einheit die kleinere unterstützt und fördert. Neben den persönlichen Formen des Helfens sind aber institutionalisierte, rechtlich festgeschriebene Formen der Hilfestellung unerlässlich - auch und gerade, wenn es um die Bewältigung der großen Risiken des Lebens geht.

Schöpfungsverantwortung

Die Schöpfungsverantwortung ist eine überstaatliche, globale Aufgabe und Herausforderung, sie gehört aber auch zu den persönlichen Pflichten aller. Ohne kritische Selbstprüfung, ohne Umkehr auf der persönlichen Ebene lässt sich die ökologische Frage nicht lösen. Es braucht eine „ökologische Bekehrung“ im eigenen Denken und Handeln. Die „Umweltfibel“ unserer Diözese kann mit verschiedenen Anregungen und Impulsen als Kompass dienen. Inspiriert wurde der Behelf von der Sozial- und Umweltenzyklika „Laudato si’“ von Papst Franziskus, der darin eine ganzheitliche Ökologie entwirft und keinen Zweifel daran lässt, dass es sich um einen Generationen übergreifenden Einsatz handeln muss. Er unterstreicht, dass vor allem die Jugend nach konkretem Handeln verlangt und bereit ist, Verantwortung zu übernehmen: „Die jungen Menschen verlangen von uns eine Veränderung. Sie fragen sich, wie es möglich ist, den Aufbau einer besseren Zukunft anzustreben, ohne an die Umweltkrise und an die Leiden der Ausgeschlossenen zu denken“ (LS 13).

b) Der organisierte Dienst

In der Diözese Bozen-Brixen gibt es viele Organisationen, Ordensgemeinschaften, Vereine und Bewegungen, die sich für den Nächsten, für öko-soziale Gerechtigkeit, für das Gemeinwohl stark machen. Besonders die Diözesancaritas hat die Aufgabe, eine aufmerksame Beobachtungsstelle zu sein, um die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen.

Die Ortskirche befindet sich in einem Veränderungsprozess. Es ist wichtig, die Beweggründe zu hinterfragen. Warum ändern wir uns? Um als Kirche unsere Selbsterhaltung zu garantieren? Oder um auf die Herausforderungen der Zeit zu reagieren, indem wir uns auf den ursprünglichen Auftrag besinnen, Zeugen des Evangeliums zu sein?

Papst Franziskus benennt die Herausforderungen in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (2013). Dieses betrachtet die Aspekte des politischen und sozialen Engagements unter Berücksichtigung von Verkündigung und Liturgie: Die Dimensionen der Liebe und des Dienstes am Nächsten dürfen weder in der Katechese, noch in der Liturgie, oder in sonst einem Bereich christlichen Lebens fehlen. Gemeinschaften jedweder Art müssen in sich die Ressourcen finden, um auf die Bedürfnisse jener zu reagieren, die Hilfe brauchen. „Gemeinschaft“ meint dabei aber keinen Selbstzweck, sondern steht im Dienst des Menschen. Die Formulierung „den Menschen in den Mittelpunkt stellen“ kann auch missverstanden werden und den Individualismus stärken. In christlicher Perspektive steht nicht das Ich im Mittelpunkt, sondern das Du. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, sagt der Religionsphilosoph Martin Buber.

c) Der politische Dienst

Weit verbreitet ist ein Freiheitsbegriff, der keine ethischen Grenzen anerkennt. Dadurch entstehen Kosten für die Allgemeinheit, die in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht aufscheinen. Dem Gemeinwohl verpflichtet sein bedeutet, das Ganze der Gesellschaft im Auge zu behalten, Unterschiede auszugleichen, Schwache und Benachteiligte zu schützen, Chancen zu ermöglichen. Beim (vor-)politischen und gesellschaftlichen Einsatz für das Gemeinwohl geht es um die Bedingungen, unter denen sowohl Gemeinschaften als auch Einzelnen ein Dasein in Würde ermöglicht wird. Das Wohl aller wird nur miteinander erreicht, gesteigert und im Hinblick auf die Zukunft bewahrt.

In Südtirol stehen wir besonders vor diesen Herausforderungen:

  • Die Einsamkeit nimmt zu und fordert dazu heraus, neue Beziehungen zu pflegen. Papst Franziskus hat in seiner Rede vor dem Parlament der Europäischen Union im Jahr 2014 Einsamkeit und Anonymität die dringlichsten „Krankheiten“ Europas genannt.
  • Die Wohnungsnot erfordert angemessene politische Maßnahmen, Initiativen zur „Wohnbegleitung“ sowie die Entwicklung sozialer Netzwerke.
  • Das Migrationsphänomen ist vor allem Folge sozialer und struktureller Ungleichheit. Papst Franziskus nennt vier Schritte, um Menschen wohlwollend zu begegnen: aufnehmen, beschützen, fördern und integrieren.
  • Menschen pflegen und betreuen ist Ausdruck der Solidarität zwischen den Generationen. Es braucht vorausschauende politische Entscheidungen, aber auch den persönlichen Einsatz eines jeden und einer jeden.

Wirtschafts- und Sozialpolitik

„Diese Wirtschaft tötet“, schreibt Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (53). Ein Wirtschaftssystem, das auf Egoismus beruht, ist die Wurzel globaler Fehlentwicklungen und Herausforderungen wie soziale Ungleichheit, ökologische Blindheit, Nationalismen und Fundamentalismen. Eine florierende Wirtschaft ist nicht automatisch auch gerecht! Entscheidend ist die Frage der rechten Verteilung. Wirtschaftlich verantwortliches Handeln stellt das Wachstum in den Dienst der Allgemeinheit. Deshalb kann eine Profitsteigerung um jeden Preis niemals eine moralisch akzeptable Handlungsmaxime sein. Voraussetzung für den Frieden ist soziale Gerechtigkeit, nicht Geiz und Gier als Triebfedern für Fortschritt, Wachstum und Erfolg. Vom „Haben zum Sein“ ist die Richtung, die uns das Evangelium zeigt, und die Zukunft, an der wir gemeinsam bauen sollen.

Den Glauben bekennen durch konkretes Tun

„An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,20). Die Selbstverpflichtungen sind eine zuversichtlich stimmende Bestandsaufnahme, zugleich aber auch Mahnung und Handlungsappell an uns alle. Klein strukturierte Gemeinschaftsformen sind nicht nur lebensnotwendig für die Zukunft unserer Kirche, sondern als ein Zeugnis für die Botschaft Jesu auch besonders handlungsfähig.

Was die Möglichkeiten der Teilnahme von jungen Menschen betrifft, so werden häufig ihr Schwung und ihre Kreativität gelobt, jedoch größere Verantwortung wird ihnen kaum zugestanden. Viele positive Beispiele zeigen, dass Kindern und Jugendlichen - nicht nur im Kontext der „Fridays-for-Future“-Bewegung - sehr wohl ein verantwortungsvoller Einsatz für die Zukunft zugetraut werden kann. Wenn sie Raum für ihre Meinungen, Ideen und Wünsche finden, dann trifft zu, was ich im Jugendhirtenbrief zum 4. Fastensonntag 2018 geäußert habe: „Indem ihr so lebt und handelt, verwirklicht ihr nicht nur euch selbst, sondern gestaltet auch Gesellschaft und Welt in einer Weise, die zutiefst christlich ist“.

Liebe Schwestern und Brüder, ich lege diesen Hirtenbrief und die Selbstverpflichtungen, an denen viele mitgeschrieben haben, in eure Hände. Es braucht den Glauben, das Mitdenken, die Überzeugung und das Mittun vieler, um die Anliegen dieses Briefes hineinzutragen in unsere Diözese, in unser Land. Im Bemühen um Solidarität sind wir nicht allein: ER geht uns voraus und ER geht den Weg mit. Es ist ein österlicher Weg, ein Weg des Umdenkens, der Umkehr, der Hingabe, der Liebe. Von Herzen wünsche ich uns allen, dass die Feier der Heiligen Woche und des Osterfestes - Mitte und Höhepunkt des Kirchenjahres - uns wieder Mut machen zum Weg in SEINER Nachfolge. Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, schenke uns allen seinen Heiligen Geist, damit wir den Glauben bekennen und tun.

 

Euer Bischof

 

+ Ivo Muser

3. Fastensonntag, Tag der Solidarität, 15. März 2020

 

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