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Vorträge & Ansprachen

Victims first: Konsequenzen für Prävention und Intervention

Eröffnungsreferat von Bischof Ivo Muser

Donnerstag, 17. November 2022

Bozen, Pastoralzentrum

Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser Tagung! Sehr geehrte Referentinnen und Referenten!

Ihnen allen einen herzlichen Gruß! Die leidvollen Erfahrungen von Frauen und Männern, die in der Kirche sexuellen Missbrauch und andere Formen von Gewalt erlitten haben, fordern uns zu einer offenen Auseinandersetzung und zu einem radikalen Umdenken heraus.

Die heutige Tagung will, wie schon die vorausgehenden Tagungen der vergangenen Jahre, eine Kultur der Aufmerksamkeit und der Verantwortung unter uns fördern. Dabei ist mir die Bedeutung und Wichtigkeit von Prävention ein besonderes Anliegen.

Weil Missbrauch häufig und überall – innerhalb und außerhalb der Kirche – geschehen kann und geschieht, braucht es eine radikale und zutiefst menschliche und christliche Mentalitätsänderung: Weg von einer Kultur des Ausblendens hin zu einer Kultur des Hinschauens; weg von einer Kultur des Sich-nicht-Einmischens, hin zu einer Kultur der Transparenz, der Offenheit und der Mit-Verantwortung.

Zu lange hat die Kirche, auch bei uns, die Haltung eingenommen, bei Missbrauchsfällen eher wegzuschauen, Täter zu versetzen und Stillschweigen zu wahren – vor allem um den Ruf der Kirche nicht zu gefährden.

Nun hat in der Kirche ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Die Betroffenen und ihr Leid stehen im Vordergrund und verpflichten uns, ihnen gegenüber Gerechtigkeit walten zu lassen.

Die Betroffenen, die sich an die Ombudsstelle wenden, werden angehört, ernst genommen und sie erhalten die erforderliche Unterstützung, um zu ihrem Recht zu kommen. Dies geschieht sowohl im Hinblick auf die kirchenrechtlichen als auch zivilrechtlichen Normen und Gesetze. Ebenso wird den Betroffenen therapeutische Hilfe angeboten. 

„Victims first“ soll unseren Blick und unsere Wachsamkeit schärfen, damit wir nicht – wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter – wie der Priester und Levit, am Verletzten vorbeigehen. Der Ausländer, der Fremde, der Samariter, lässt sich vom Leid des Opfers, der unter die Räuber gefallen ist, selber treffen und kümmert sich um ihn, bevor er andere miteinbezieht. 

Jede Form von Missbrauch und Gewalt verletzt die Würde und die Freiheit der Menschen. Die psychologischen, körperlichen und gesundheitlichen Folgen belasten und beeinträchtigen das Leben und die Zukunft der Betroffenen – einschließlich der spirituellen und existenziellen Dimension. Manche Betroffene haben es nicht geschafft; sie haben sich sogar das Leben genommen.

Entsprechend der Option Gottes für die Waisen, Witwen, Armen, Flüchtlinge und Entrechteten hat der Fokus auf die Betroffenen, im Sinne von „Victims first“, Vorrang. Sie sind die Experten und Expertinnen in eigener Sache. Sie können uns Einblick geben in die Umstände, die zum Missbrauch geführt haben, in die Strategien der Täter und Täterinnen, in die Vorgangsweisen der Verantwortlichen bei der Meldung bzw. Aufdeckung und wie die Umwelt damals darauf reagiert hat. Die Betroffenen zeigen uns auf, mit welchen Belastungen, mit welcher Not und mit welchen Folgen sie oft allein zurechtkommen mussten. Nicht selten bekamen sie mit, dass andere davon wussten, und nichts unternommen haben oder unternehmen konnten, weil sie selbst Teil des missbrauchenden und Gewalt ausübenden Systems waren. Mit all dem müssen wir uns auseinandersetzen.

Unsere Aufgabe als Kirche ist heute eine dreifache: Erstens haben wir zu bekennen, dass auch wir den Missbrauch von Minderjährigen und schutzbedürftigen Erwachsenen unterschätzt, unterbewertet und vertuscht haben. Zweitens sind wir den Betroffenen jene Aufmerksamkeit schuldig, die ihnen zu lange nicht gegeben wurde; auch jede psychologische, medizinische und rechtliche Unterstützung wurde ihnen oft vorenthalten. Jetzt soll ihnen Gerechtigkeit zuteilwerden. Dazu kommt noch eine dritte Aufgabe, nämlich, dass wir uns den Fehlern der Vergangenheit stellen und Verantwortung für deren Folgen übernehmen. Das heißt, dass wir alles in unseren Kräften tun sollen, und uns dabei professionell auch von außen unterstützen lassen, damit die Kirche ein sicherer Raum für Minderjährige und schutzbedürftige Erwachsene ist. Dafür braucht es Schutzkonzepte. Darüber werden wir heute mehr erfahren. Und dafür braucht es auch insgesamt eine ehrliche und verantwortliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit von Missbrauch und sexualisierter Gewalt und den damit verbundenen Themen wie Sexualität, Macht und Autorität. Diese inhaltliche und strukturelle Auseinandersetzung soll von einer Zukunftsvision geprägt sein, die der Frohen Botschaft, den Grundwerten des Evangeliums und des kirchlichen Auftrages entspricht und gleichzeitig den Menschenrechten und den Rechten der Kinder Rechnung trägt.

Aus diesem Grund habe ich das Institut für Anthropologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, das ehemalige Kinderschutzzentrum, das von P. Hans Zollner SJ geleitet wird, im Sommer beauftragt, ein Konzept für unsere Diözese auszuarbeiten. Grundlinien dieses Konzeptes werden uns heute vorgestellt. Wir werden uns dann in den diözesanen Gremien und mit den Ordensleitungen darüber austauschen. Mir ist es ein Anliegen, dass hier ein gemeinsamer Weg beschritten werden soll, einerseits als Kirche und andererseits als Kirche in der Gesellschaft. Beide, Kirche und Gesellschaft, tragen Verantwortung für das Wohl der Kinder und Jugendlichen. Hier können Kirche, Gesellschaft und Politik in einen neuen Dialog treten, der auch durch diese Veranstaltung angeregt und gefördert werden soll. Gerade diesen Dialog halte ich in diesem Bereich so wichtig! Ohne von der Verantwortung der Kirche auf irgendeine Weise abzulenken, dürfen wir nicht verschweigen, dass der größte Teil sexualisierter Gewalt in unseren Familien und im familiären, verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Kontext geschieht.

Ich spreche allen meinen aufrichtigen Dank aus, die in der Vergangenheit und in der Gegenwart sich diesem leidvollen und so wichtigen Thema gewidmet haben und widmen. Mein Dank gilt der Ombudsfrau, Dr. Maria Sparber, dem Diözesanbeauftragten für den Schutz von Minderjährigen und schutzbedürftigen Personen und für die Prävention von sexuellem Missbrauch und anderen Formen von Gewalt, unserem Diözesanpriester Gottfried Ugolini.

Ich danke allen Mitgliedern des Fachbeirates für ihre Bereitschaft und für ihren Beitrag zur Förderung einer Kultur des Lebens, der den Schutz von Kindern, Jugendlichen und anderen schutzbedürftigen Menschen zum Ziel hat. Mein Dank gilt auch Generalvikar Eugen Runggaldier, in dessen institutionellen Verantwortungsbereich dieses Anliegen gehört. Aber vergessen wir nicht: Es geht um ein Anliegen, das uns alle angeht!

Ich wünsche mir, dass die heutige Tagung hilfreiche und richtungsweisende Impulse setzt für unsere Verpflichtung gegenüber den Betroffenen und für den Schutz von Minderjährigen und schutzbedürftigen Erwachsenen heute und morgen. Jesus hat gesagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Jede Form von Missbrauch und Gewalt pervertiert diese Verheißung. Deshalb ist und bleibt unser Auftrag, den Betroffenen die Würde zurückzugeben und für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Perspektive „Victims first“ hat nicht nur unmittelbare Folgen für Prävention und Intervention. Sie hat auch grundlegende Folgen für eine systematische und systemische Veränderung, für eine Kultur des Lebens, in der der Wert und das Wohl der einzelnen sowie das Gemeinwohl geschützt werden.

„Victims first: Konsequenzen für Prävention und Intervention“: Das ist das Thema, das uns heute zusammengeführt hat. Dieses Thema und der Auftrag, der damit verbunden ist, werden wir nicht heute „lösen“, um dann zur Tagungsordnung überzugehen. Es geht um einen „fortwährenden Prozess“, wie Papst Franziskus sagt – eben weil Missbrauch mit all seinen verheerenden Folgen häufig und überall geschehen ist und auch heute geschieht.Reden wir darüber, heute und nicht nur heute. Ich wünsche allen eine gute, fruchtbare Tagung.