Was wir aus der Coronakrise gelernt haben, oder: Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an …
Ich denke an Menschen, die nicht mehr berufstätig sind, die ihre Zeit aber mit vielen unterschiedlichen Aufgaben und Tätigkeiten verbringen, die ihr Leben erfüllen:
die Betreuung der Enkel, das ehrenamtliche Engagement in der Seniorenrunde der Pfarre, der Theaterbesuch, die Jahresmitgliedschaft im Fit In, Walken mit Freundinnen, die Betreuung einer hochbetagten Nachbarin, die Mitarbeit in einer Bürgerinitiative im Wohngrätzl, der Einsatz als Lesepate in der Volksschule, das Erlernen eines Musikinstruments, um nur einiges zu nennen.
Zumindest bis zum 16. März 2020 war das so. Und dann wurden sie zur Risikogruppe ernannt.
Die Zeit der Corona bedingten Einschränkungen war für viele ältere Menschen besonders herausfordernd. Dieses Virus hat sehr energisch an die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit des Lebens erinnert. Die ARGE Altenpastoral der österreichischen Diözesen sowie der Diözese Bozen-Brixen hat einige wichtige Erfahrungen aus dieser Zeit in den Blick genommen und zusammengefasst, was plötzlich ganz neu und anders gewesen ist:
Ein differenzierter Blick auf die Lebensphase Alter
Ältere Menschen ab 65 gehören zur Risikogruppe – und das unabhängig von ihrem Gesundheitszustand. Das wurde uns in den letzten Wochen medial eingeschärft.
In der Realität erstreckt sich die Lebensphase Alter von den „jungen, fitten, agilen Senior*innen“ bis zu den pflegebedürftigen hochaltrigen Menschen. Man ist vom kalendarischen Alter ausgegangen, der Blick war somit sehr undifferenziert: alt = Risiko.
Rückzug, Einsamkeit und Isolation
Die acht Wochen der eingeschränkten Kontakte haben Spuren hinterlassen. Viele Senior*innen, die ehrenamtlich tätig, sportlich aktiv waren oder die Enkelkinder betreuten, fühlten sich aufs Abstellgleis geschoben. Plötzlich waren sie „nichts mehr wert“.
Hochaltrige Menschen, für die Arztbesuche, Einkäufe, Besuche im Seniorenclub usw. den Alltag strukturierten, wurden zwar meistens zuhause gut versorgt. Ältere Menschen brauchen aber neben den sozialen Kontakten die Bewegung und die geistige Herausforderung. Dies muss ermöglicht werden.
Viele vermissten die erfahrbare Gemeinschaft im Gebet, in pfarrlichen Gruppierungen und im Gottesdienst. Und teilweise wurde bei Hochbetagten und bei denen, die auf Hilfe angewiesen sind, das Gefühl verstärkt, eine noch größere Last für die Gesellschaft zu sein.
Sorgezeit und sorgende Gemeinschaft
Wir leben aus und in Beziehungen mit anderen. Diese Beziehungen sind lebenswichtig. Wir entdecken, wie gut es tun kann, eine sorgende Gemeinschaft zu sein. Die Sorge anderer lässt uns aufatmen und ermöglicht uns unsererseits sorgsam zu sein und in Solidarität unsere „Selbstisolation“ zu überwinden. Ältere Menschen konnten die Sorge anderer erfahren, sie waren aber teilweise in ihrer Unterstützung für die jüngere Generation sehr eingeschränkt, Betreuung der Enkel durch Großeltern, viele ehrenamtliche Dienste waren plötzlich nicht mehr möglich.
Notwendigkeit der Teilhabe an den digitalen Medien
Die Kommunikation lief vielfach über digitale Medien. Pfarren befüllten liebevoll ihre Homepages, Gottesdienste wurden gestreamt. Aber 40% der über 60jährigen haben keinen Internetzugang. Zahlreiche Informationen und Unterhaltungsmöglichkeiten konnten deshalb von ihnen nicht genutzt werden. Junge sind gefordert, Möglichkeiten digitaler Kommunikation für unsere Zielgruppe in der Altenpastoral zu entwickeln. Es wird spannend sein, welche Formen das „analoge“ Angebot gut ergänzen können – nicht im Sinne eines „Entweder-oder“, sondern als zusätzliche Option. Virtueller Kontakt kann Ersatz für die persönliche Begegnung sein.
Fremd- versus Selbstbestimmung
Für viele Senior*innen war diese Zeit sehr Angst behaftet. Man wollte zwar nicht sterben, aber auch keinem Jüngerem einen Intensivbettplatz wegnehmen.
Allerdings war man sich sehr wohl bewusst, dass man schon viele Krisen im Leben erlebt und überstanden hat und in Eigenverantwortlichkeit Risiken abschätzen kann. Neben dem Schutz der Gesundheit sind menschliche, soziale und familiäre Werte und Kontakte von essentieller Bedeutung. Es ist unerlässlich, an die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen zu appellieren, was er möchte und was nicht, welches Risiko er bereit ist, auf sich zu nehmen und welches nicht. Es braucht also ein Nachdenken, nicht nur darüber, was dem Menschen das Leben rettet, sondern auch darüber, was ihn in Würde leben lässt.
Die Situation der Seelsorge in unseren Pflege- und Seniorenhäusern
Hier gab es österreichweit unterschiedliche Erfahrungen – von der Aufstockung der Seelsorgestunden bis zu keiner Erlaubnis, das Haus zu betreten, also kaum einer Möglichkeit der seelsorglichen Begleitung. Besonders geschätzt wurde die Entlastung durch Gespräche von den Pflegenden. Die Seelsorger*innen erfanden durchaus kreative Mittel und Wege, um mit den Bewohner*innen in Kontakt zu kommen: Telefonate, Briefe, Balkongottesdienste, demenzfreundliche Gottesdienste über Youtube wurden ins Leben gerufen. Ehrenamtliche Seelsorger*innen konnten ihrem Dienst großteils nicht nachkommen. Es kristallisierte sich sehr eindeutig heraus, in welchen Häusern die Seelsorge zum Team und zur Pflegephilosophie gehört. In der Coronazeit sind die Nachteile, dass die Pflegeheimseelsorge nur Systempartner ist, offen zutage getreten.
Ein ganzheitlicher Pflegeansatz, in dem auch die Sorge um die Seele essentiell zum Menschenbild dazugehört, ist hier unbedingt notwendig; Seelsorge als ein Teil von Palliative Care, die mittlerweile in den meisten Pflege- und Seniorenhäuser selbstverständlich eingegliedert ist. Das Recht auf Kontakt mit Angehörigen bzw. das Recht auf Seelsorge durch einen Vertreter*in der eigenen Religionsgemeinschaft ist in den letzten zwei Monaten massiv eingeschränkt worden und das mit dem Argument des Lebensschutzes für die Mitbewohner*innen. Das Recht auf Seelsorge muss gesetzlich verankert werden.
Rund 20% der Menschen mit Demenz werden in Institutionen betreut. Die anderen werden hauptsächlich von Angehörigen in Kooperation mit Pflegediensten versorgt. Für Angehörige stellte diese Zeit eine enorme Belastung dar, da Entlastungsangebote nicht in Anspruch genommen werden konnten. Abstand halten, Mund-Nasen-Schutz ist für Menschen mit Demenz nicht begreifbar und deshalb nicht machbar. Menschen mit Demenz brauchen Nähe, Berührung, Kommunikation über Mimik und Gestik.
Jedes menschliche Leben, ob alt oder jung, ist gleich viel wert und schützenswert. Es gilt auch abzuwägen, was das Leben für ältere Menschen lebenswert macht und den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Soll die Gesellschaft/der Staat aber wirklich nur die körperliche Unversehrtheit vulnerabler Menschen schützen oder sie auch vor einem sozialen, psychischen und seelischen Tod bewahren? Es wurde vor Corona gestorben, es wird mit Corona gestorben und es wird auch ohne Corona gestorben. Die Hospizbegleitung und die Seelsorge haben sich erfolgreich für einen menschenwürdigen Umgang mit dem Tod eingesetzt. Unter Corona-Bedingungen war auch das Sterben vom Abstandhalten geprägt. Es muss von allen Beteiligten gewährleistet werden, dass Seelsorger*innen zu den Sterbenden kommen können.
Was wir uns als ARGE Altenpastoral von Verantwortlichen in Kirche und Gesellschaft wünschen
- Das Alter differenziert sehen – alt ist nicht gleich krank.
- Alte Menschen sind selbstbestimmt und haben schon viele Krisen in ihrem Leben gemeistert.
- Die Ängste der Menschen ernst nehmen.
- Dem sozialen Tod durch Isolation entgegenwirken – zur Menschenwürde zählt auch die soziale Gesundheit des Menschen.
- Sorgende Gemeinschaft - gelebte Solidarität und praktizierte Selbst- und Nächstenliebe sind tragende Werte unseres Landes.
- Soziale Kontakte, Gebrauchtwerden sind lebensnotwendig.
- Recht auf Seelsorge in den Senioreneinrichtungen aller Bundesländer – Verankerung in den jeweiligen Pflegeheimgesetzen.
- Haupt- und ehrenamtliche Seelsorger*innen als integrativer Bestandteil des Pflegeteams flächendeckend einsetzen.
- Ganzheitlicher Pflegebegriff – Sorge um Körper, Geist und Seele
- Möglichkeit der Übertragungen von Gottesdiensten in die Zimmer als Standard einer Senioreneinrichtung
- Zusammenarbeit mit Bildungsanbietern, um die Teilhabe an der digitalen Welt zu gewährleisten.
- Seelsorgliche Zusatzausbildung für geeignete Pflegende, um im Krisenfall kompetente Personen vor Ort zu haben.
- Menschen mit Demenz und deren Angehörige brauchen besondere Aufmerksamkeit.
- Der Tod gehört zum Leben. Sterbende haben das Recht auf seelsorgliche Begleitung.
Als Verantwortliche für die Seniorenpastoral in den österreichischen Diözesen und Südtirols vertrauen wir der Kraft des Heiligen Geistes, der uns aus der Krise lernen lässt.
- Beatrix Auer, M.Ed., Dr. Renate Moser, Dipl.PAss Werner Jankovich – Erzdiözese Wien
- Mag. Rupert Aschauer – Diözese Linz
- Gabriele Fahrafellner, Edith Habsburg – Diözese St. Pölten
- Mag. Robert Ganser – Diözese Eisenstadt
- Mag. Gerhard Häfele – Diözese Feldkirch
- Mag. Judith Höhndorf – Diözese Gurk Klagenfurt
- Mag. Matthias Hohla MAS – Erzdiözese Salzburg
- Mag. Anton Tauschmann Bakk.phil, Mag. Otto Feldbaumer – Diözese Graz Seckau
- Dipl. Theol. Rudolf Wiesmann – Diözese Innsbruck
- Dr. Josef Torggler – Diözese Boxen-Brixen
Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend auf. Vom Mutterleib an stütze ich mich auf dich, vom Mutterschoß an bist du mein Beschützer;
dir gilt mein Lobpreis allezeit. Für viele bin ich wie ein Gezeichneter, du aber bist meine starke Zuflucht. Mein Mund ist erfüllt von deinem Lob, von deinem Ruhm den ganzen Tag.
Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin, verlass mich nicht, wenn meine Kräfte schwinden.
Ps 71, 5-9