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Vorträge & Ansprachen

Grundsatzreferat bei der Pastoraltagung 2022

Bischof Ivo Muser

Brixen, 17. September 2022

Auf dein Wort hin… nahe und gemeinsam 

Sulla Tua parola… vicini e assieme 

Pastoraltagung in der Cusanusakademie, 17. September 2022

 

„Als sie weiterzogen, kam er in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn gastlich auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen! Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.“ (Lk 10,38-42) 

 

Jesus bei Martha und Maria: diese Erzählung hat uns bis hier her durch die Pastoraltagung begleitet. Die italienische Bischofskonferenz hat sie als Leitmotiv für das kommende Jahr des synodalen Weges der Kirchen in Italien ausgewählt. Zugleich bringt dieser Text gut zum Ausdruck, worum es im Diözesanen Jahresthema geht: „Auf Dein Wort hin… nahe und gemeinsam“.  

In der Mitte des Textes steht die Feststellung Jesu: „nur eines ist notwendig“. Er meint die Haltung des Zuhörens, die Maria eingenommen hat. Das Hören auf Jesus ist die Quelle, aus der alles andere entspringt. Jesus wertet Martha und ihren Dienst nicht ab, aber er hält eine Priorität fest. Es ist die Priorität des Hörens, des Empfangens, der Offenheit gegenüber dem anderen. Die Diakonie, der Dienst am Nächsten, am Gast, wird seit jeher als privilegierter Moment der Gottesbegegnung gesehen. Martha hat das gerade aus den Augen verloren, und Jesus erinnert sie daran: es geht nicht um die äußeren Verrichtungen, sondern um die Begegnung, die verändert und bereichert. Die Begegnung mit Gott und den Menschen: das ist das eine Notwendige. 

Darum geht es auch in unserem Jahresthema: die Begegnung mit dem Anderen ist unverzichtbar. Sie ist das, was allein notwendig ist – und ohne die Begegnung mit dem Anderen ist unser Tun leer und sinnlos, gerade in der Seelsorge. Warum? Weil der Andere eben anders ist. Weil er mich nicht in meiner Komfortzone lässt. Weil er mich zwingt, selbst „anders“ zu werden, mich zu verändern. „Nahe und gemeinsam“: diese beiden grundlegenden Qualitäten unseres pastoralen Handelns machen unsere Tätigkeit nicht einfacher und auch nicht effizienter. Oft trifft eher das Gegenteil zu. Gemessen an den Gästen, die zu bewirten sind, ist Maria wenig effizient und produktiv, indem sie da sitzt, Jesu Nähe sucht, in seiner Gemeinschaft bleibt.  

Genauso ist es auch in der Seelsorge. „Nahe und gemeinsam“ macht uns die Arbeit nicht leichter, im Gegenteil. Wer anderen Menschen nahekommen will, muss zusätzlich Zeit einrechnen und wird am Ende noch neue Themen und Komplikationen auf den Tisch bekommen. Dinge gemeinsam tun bedeutet oft einen deutlichen Mehraufwand und nicht unbedingt, dass die Vorhaben am Ende besser gelingen. Unter Gesichtspunkten der Effizienz sollten wir vielleicht ein anderes Motto wählen. 

Die Begegnung mit dem anderen, einander nahe sein, gemeinsam vorangehen: wir gewinnen dadurch nicht Effizienz oder Schlagkraft, aber wir kommen mit Gott in Verbindung. Die Begegnung mit anderen Menschen ist der zentrale Ort, an dem sich die Begegnung mit Gott abspielt. Die Begegnung mit ihm ist aber kein Wohlfühlprogramm, keine Wellnessoase, sondern ein Ruf zur Umkehr: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Er tut dies mit einem klaren Ziel: Er möchte, dass das Doppelgebot der Liebe unser Leben durchformt und verändert. Diesem einen Ziel gilt unser Dienst als Kirche: Wir sind „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1) 

Wenn wir einander nahe sind, wenn wir gemeinsam vorangehen: dann können wir dem Gott der Liebe begegnen, ihn – den EINEN notwendigen – an erste Stelle stellen, uns von ihm verändern lassen. Auf diesem Hintergrund möchte ich heute auf eine kleine Auswahl aktueller Themen der Seelsorge eingehen.  

 

Eucharistie und Wort Gottes 

In einer Woche findet in Matera der italienische eucharistische Kongress statt, an dem auch eine kleine Delegation unserer Diözese teilnehmen wird. Der Kongress steht für die zentrale Rolle des Brotbrechens in der Kirche Christi.  

 

Ohne das Brotbrechen, ohne die Eucharistie, kann Kirche nicht sein! Eine herausfordernde Aussage in einer Zeit, in der in vielen Pfarreien am Sonntag wegen des Priestermangels die Eucharistie nicht gefeiert werden kann. Diese Situation wird sich in nächster Zeit noch dramatisch zuspitzen. Dies führt uns in Versuchung, die konkurrenzlose Bedeutung der Eucharistiefeier nicht mehr zu sehen, und zugleich die Wortgottesfeier als eine Art Lückenbüßer für die Eucharistie zu verstehen. Mit Blick auf Martha und Maria können wir sagen: Das „eine Notwendige“ in unserem Tun ist die Begegnung mit Christus und das Hören auf ihn. Jesus kritisiert Martha nicht, weil sie eine gute Gastgeberin sein will, aber er erinnert sie an das Grundlegende, das Maria gewählt hat. Das eine soll nicht gegen das andere ausgespielt werden, es darf zu keinem „Entweder-oder“ kommen. Es gibt eine klare Priorität – jene des Hörens auf Jesus – und dennoch ist beides wichtig: das Hören und das Dienen. Sie können sogar ohne einander nicht sein. Denn was wäre das für ein Hören, das nicht in den Dienst führt?  

Wir können diesen Gedanken auf das Verhältnis zwischen Eucharistie und Wortgottesfeier übertragen: Die Eucharistiefeier ist grundlegend und kommt zuerst. Sie ist „Mitte, Quelle und Höhepunkt“ des christlichen Betens und Feierns. Bitte sagen wir das auch so – in aller Klarheit! Bitte sagen wir in diesem „eucharistischen Zusammenhang“ auch, dass wir Priester brauchen und wollen – ohne Wenn und Aber! Das „Sine dominico non possumus“ der Märtyrer von Abitene in Nordafrika gilt auch heute: Herrentag, Herrenmahl und Herrengemeinschaft gehören seit der Zeit der Apostel zusammen. Gleichzeitig ist die Wortgottesfeier ein Wert und ein Segen für die Gemeinschaft. Eucharistiefeier und Wortgottesfeier: Wir brauchen beide und beide aufeinander bezogen! In der Begegnung mit Bischöfen aus den sogenannten Missionsländern wird mir oft deutlich: Da könnten wir viel von diesen jungen Kirchen lernen. 

Gerade aus der eucharistischen Mitte der Kirche heraus muss uns die Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes wichtig sein. Weil Christus im Sakrament da ist, weil das Wort Fleisch geworden ist und Fleisch werden will (vgl. Joh 1,14), wollen wir auf sein Wort hören, ihn kennen und lieben lernen. Es braucht eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes, eine Pastoral, die Jesu Gegenwart und das Hören auf sein Wort in die Mitte stellt. Ich denke hier auch an das Herzensanliegen und das Vermächtnis von Bischof Wilhelm Egger. 

Im vergangenen Jahr haben sich in einigen Pfarreien kleine Gemeinschaften und Gruppen auf den Weg gemacht, um gemeinsam Bibel zu teilen. Es ist ein einfacher und leichter Weg, auf dem jeder und jede von uns mit dem Wort Gottes in Verbindung treten kann. Es braucht keine große theologische Bildung, es braucht keinen Lehrer, es braucht nur Bereitschaft und Übung. Und doch ist es ein Weg, wie Menschen einander im Glauben nahekommen und gemeinsam unterwegs sein können.  

Eine Vision, die uns die Diözesansynode mitgegeben hat: kleine christliche Gemeinschaften, die gemeinsam Bibel teilen, gemeinsam das Leben teilen und segensreich in die Nachbarschaft hineinwirken. In jeder Pfarrei Glutnester von Menschen, die das Feuer des Glaubens anfachen, indem sie sich um das Wort Gottes versammeln und miteinander einen Weg gehen! Diese in der Bibel verankerten Gruppen von Menschen geben der ganzen Gemeinschaft neuen Wind, sie lehren uns, das Wort Gottes auf neue Weise zu leben und zu feiern: einfach, persönlich, nahe und gemeinsam. Und wenn wir dann als „Mitte, Quelle und Höhepunkt“ Eucharistie feiern: dann feiern wir nicht die Gegenwart eines geheimnisvollen Fremden, sondern Christus, den wir in der Heiligen Schrift kennen und lieben gelernt haben. Das Wort des heiligen Hieronymus bleibt gültig: „Die Schrift nicht kennen, heißt Christus nicht kennen“.  

 

Dienst am verwundeten Menschen und an der verwundeten Schöpfung 

Aus dieser Liebe zu Christus, den wir in der Heiligen Schrift kennen lernen und dem wir in der Eucharistie gleichgestaltet werden, entspringt der Dienst am Nächsten und die Sorge für das gemeinsame Haus der Schöpfung.  

Schauen wir nochmals auf die Szene von Martha und Maria. Und hier nochmals besonders auf Martha. Wir begegnen den beiden Frauen nach dem Lukasevangelium noch einmal im Johannesevangelium, in den Erzählungen von der Auferweckung des Lazarus und der Salbung Jesu. Auch hier wird Martha als die Hausherrin gezeichnet, die sich um den Gast kümmert. Aber noch viel mehr: eine beherzte Frau, die die Situation in die Hand nimmt, Jesus entgegengeht und die Entwicklung vorantreibt. Vor allem aber: von ihr kommt das Bekenntnis, das dem des Petrus um nichts nachsteht und das der ganzen Erzählung die Deutung gibt: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“ (Joh 11,27) So gesehen ist Martha das große Vorbild eines Dienstes und einer Gastfreundschaft, die im Bekenntnis zu Christus wurzelt und von hier her Kraft schöpft. 

Martha und Maria, das Dienen und das Hören: beide gehören untrennbar zusammen. Das Jahresthema „nahe und gemeinsam“ will uns ermutigen, den Dienst am Nächsten nochmals intensiv und bewusst in die Hand zu nehmen. Da geht es um die alten und kranken Menschen, um die Einsamen und um die Traurigen, die Armen und die Ausgegrenzten, um die Menschen auf der Flucht und um die Menschen in jeder Form von materieller und seelischer Not. Jedem einzelnen Menschen soll Nähe geschenkt sein. Dies soll nicht nur am guten Willen von einzelnen hängen, so lobenswert das ist, sondern es braucht einen bewussten und reflektierten Dienst der ganzen Gemeinschaft.  

Die caritative Tätigkeit einer Pfarrei darf nicht auf einige wenige beschränkt bleiben. Es braucht eine Pastoral der Nächstenliebe, deren Ziel die Gemeinschaft als Ganze ist. Es geht darum, die ganze Gemeinschaft für die Not der Mitmenschen zu sensibilisieren, und noch mehr! Es geht darum, aufzuzeigen und zu bezeugen, wie wir in der Nähe zueinander Christus begegnen und ihn kennenlernen dürfen.

Setzen wir uns dieses große Ziel und tun wir es in kleinen Schritten: etwa indem wir dafür sorgen, dass keine Sitzung des Pfarrgemeinderates oder des Vereinsvorstandes oder der Klostergemeinschaft zu Ende geht, ohne dass nicht auch das Thema der tätigen Nächstenliebe oder ein Zeugnis gelebter Nächstenliebe zur Sprache gekommen ist. Wie das Gebet und das Schriftwort sollte auch das Zeugnis der Nächstenliebe unverzichtbarer Teil jeder Zusammenkunft von Christinnen und Christen sein. 

Wir dürfen uns in all dem von der großen Hoffnung leiten lassen, die uns in Christus geschenkt ist: dass in ihm die ganze Schöpfung zur Vollkommenheit geführt wird. Die christliche Hoffnung geht aufs Ganze, so wie auch viele der Herausforderungen unserer heutigen Zeit auf Ganze gehen. Es reichen, ohne ins Detail gehen zu können, die Stichworte Klimawandel, Krieg und Hunger. Allzu deutlich wird uns, dass alles miteinander verbunden ist und jeder und jede von uns den eigenen Teil der Verantwortung tragen muss.

Lassen wir uns von der Größe der Herausforderungen nicht entmutigen! Setzen wir die Schritte, die heute möglich sind. Eine Photovoltaikanlage auf dem Widumdach? Eine neue, nachhaltige Heizanlage für das Pfarrheim? Das Innere des Kirchengebäudes höchstens auf eine Temperatur von 15° C bringen? Fassaden- und Kirchturmbeleuchtung reduzieren oder überhaupt darauf verzichten? Es mag uns wie ein Tropfen auf den heißen Stein vorkommen. Aber nur eines wird von uns verlangt: dass wir in konkreten Entscheidungen und in bewusstem Tun unermüdliche Zeugen der Hoffnung sind. Wir alle kennen das schöne Gebet: „Herr, gib mir die Kraft, das zu ändern, was ich ändern kann; die Gelassenheit, das anzunehmen, was ich nicht ändern kann; und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“  

 

Gemeinsam Pfarrei gestalten 

An dieser Stelle möchte ich einen provokanten Kontrapunkt setzen. Wir haben ein schönes Jahresthema, das gut klingt und inspiriert. Wir haben zwei Schwerpunkte, das Wort Gottes und die tätige Nächstenliebe. Aber wir wissen nicht, wie es in den Pfarreien weitergehen soll. Wir schaffen es kaum, den Alltag zu bewältigen: wo soll noch Platz sein für neue Themen? 

Impulse aus der Weltkirche oder aus der Diözese, ja sogar gute Ideen, die in den Pfarreien selbst entstehen, bleiben liegen, schlicht und einfach, weil wir schon voll gefordert sind, den Alltag zu gestalten. Die bisherige Struktur der Seelsorge löst sich auf. Dabei sollten wir nicht verschweigen: Der Gläubigenmangel ist noch viel größer als der Priestermangel! Die Volkskirche, die Verankerung der Kirche im Volk, erlebt einen Umbruch und Abbruch, vergleichbar dem dramatischen Gletscherschwund, der in diesem Sommer besonders deutlich geworden ist. Säkularisierung, Individualisierung und Privatisierung in der Beziehung zu Glauben und Kirche sind zu einer großen Herausforderung geworden. Weniger ICH und mehr WIR – täte uns gut. Christlicher Glaube ist persönlich, aber nie privat! Er ist von seinem Wesen auf Gemeinschaft bezogen. Was tue ich, damit die Gemeinschaft der Gläubigen leben kann? 

Zwei Anregungen gebe ich in diese Situation hinein. Maria und Martha liefern uns auch hier das passende Bild. In unserer Situation des Umbruchs dürfen, ja sollen wir uns an den beiden Frauen ein Vorbild nehmen. 

Maria steht dafür, dass wir uns nicht in der Vielfalt der Aufgaben verlieren und klar im Auge behalten, was allein notwendig ist: Christus und sein Wort. Nur darum geht es in unserem Jahresthema. „Nahe und gemeinsam“ ist kein besonderes Tun, sondern eine Qualität des Tuns. Es geht um eine Aufmerksamkeit für Gott und füreinander, die vor unserem Tun steht und es begleiten muss. Die Schwerpunkte des Jahresthemas, Bibel und Nächstenliebe, verdeutlichen diese eine, notwendige Mitte unseres Tuns. Gerade dann, wenn uns alles zu viel und zu unübersichtlich vorkommt, gilt es, bei Gott und bei den Menschen innezuhalten. Gemeinsam Bibel teilen und Gott suchen; die Zeit, die wir den Menschen schenken und füreinander da sind: Das alles ist kein Luxus, sondern das eine Notwendige, das wir zuerst suchen und wählen sollen. Alles andere wird von hier her Kraft und Freude gewinnen. 

Martha steht für das gut bestellte Haus, wo die Dinge des Alltags geregelt sind und in dem der Gast willkommen ist. So soll auch unsere Pfarrei sein: gut aufgestellt für den Alltag und offen für das Neue, die Menschen, die bei uns zu Gast sein möchten. Erinnern wir uns daran, dass Jesus Martha nicht für die Organisation des Hauses tadelt, im Gegenteil. Er hilft ihr, den Blick auf die Quelle ihres Tuns nicht zu verlieren, die Orientierung in den vielen Aufgaben zu behalten.

Heute gilt es, in unseren Pfarreien für ein gut bestelltes Haus zu sorgen. Dies betrifft insbesondere die Leitung der Pfarrei. Der strukturelle Umbruch ist vor allem hier spürbar und muss vor allem an dieser Stelle noch viel entschlossener als bisher angegangen werden. Die Richtlinien zu den Pastoralteams und zum Miteinander im Leitungsdienst geben einen gangbaren Weg vor. Über manches Detail kann man diskutieren, Vorgangsweisen kritisieren und in mancher Frage werden wir aus Erfahrung klüger werden. Doch der Sache nach führt kein Weg daran vorbei: nur dort werden unsere Pfarreien eine Zukunft haben, wo es eine Gemeinschaft von Menschen gibt, die dafür Verantwortung übernehmen. Nur wo es zumindest eine kleine Gruppe von Personen gibt, die diese Verantwortung auch offiziell übernehmen, kann in Zukunft noch eine Pfarrei bestehen.  

Wenn ich an die Pastoralteams denke, die in vielen Pfarreien schon existieren oder aufgebaut werden, dann denke ich vor allem an das Stichwort „gemeinsam“. Eine Pfarrei ist dann lebendig, wenn das gemeinsame Tun, das gemeinsame Vorangehen im Mittelpunkt steht. Nicht das Programm, die Aufgaben, sondern die Menschen stehen im Mittelpunkt einer gesunden Pastoral. Erste Aufgabe des Pfarrgemeinderates und des Pastoralteams ist es, die Menschen in der Pfarrei zu kennen und möglichst vielen die Erfahrung des gemeinsamen Dienstes in der Pfarrei zu ermöglichen. Paulus hat dies den Christen von Korinth mit Nachdruck ans Herz gelegt: jedem und jeder von uns sind Gaben geschenkt, mit denen wir an der Gemeinschaft bauen und Kirche gestalten können. Niemand ist einfach Konsument, denn jeder und jede hat einen Beitrag für die Kirche zu geben. So ist die wichtigste und vordringlichste Aufgabe in der Leitung der Pfarrei nicht das Programm, sondern der Mensch, dem wir helfen, dass seine Gaben und Talente zum Wohl der Gemeinschaft aufblühen können. 

Die Sorge um geistlichen Tiefgang und das Bemühen um eine gute Organisation widersprechen einander nicht, sondern bedingen sich gegenseitig, so wie sich die Stichworte „nahe“ und „gemeinsam“ gegenseitig ergänzen und bedingen. Tiefgang und Organisation aber sind die Eckpunkte, die uns helfen, das Gefühl der Überforderung zu überwinden, das uns heute vielfach lähmt. So möchte ich auch das Jahresthema „nahe und gemeinsam“ nicht als zusätzliche Aufgabe sehen, sondern als dringende Aufforderung, an den Grundlagen zu arbeiten, ohne die alles andere nicht gelingen kann.

 

Synodale Wege 

Um eben diese Grundlage geht es auch in den synodalen Wegen, an denen wir aktuell teilhaben: Wir haben uns im vergangenen Arbeitsjahr mit verschiedenen Initiativen an weltweiten Weg der Bischofsynode beteiligt. Zeitgleich mit der weltweiten Synode hat auch der synodale Weg der Kirchen in Italien begonnen, der fünf Jahre angelegt ist. Auch wir sind eingeladen, in unserer Ortskirche diesen Weg unserer Kirche mitzugehen. Auf Grundlage der Rückmeldungen des ersten Jahres wurden drei Fragekreise („cantieri“, Baustellen) definiert, an denen nochmals ein genaueres Hinhören erforderlich ist. Ich kann hier nicht ins Detail gehen, möchte aber zwei Punkte hervorheben, die mir hier wichtig erscheinen.  

Erstens: Das nationale Dokument, das im August von der Bischofskonferenz herausgegeben wurde, beklagt, dass es bisher nicht gelungen sei, den Blick wirklich über den Tellerrand hinaus zu weiten. In diesem Jahr sind wir eingeladen, einen Schritt weiter zu gehen und jenen zuzuhören, die am Rand oder außerhalb unserer kirchlichen Gemeinschaften stehen. Mehr noch: die Bischofskonferenz ruft in ihrer Zusammenfassung dazu auf, das Denken in „innen“ und „außen“ zu überwinden und in einer Haltung des Hörens und der Offenheit auf alle Menschen zuzugehen. Es geht um eine Art des Umgangs miteinander, die nicht vom „innen“ oder „außen“ sondern vom Glauben an die Gegenwart Gottes im Nächsten bestimmt ist. Im Zuhören begegnen wir Christus. So lädt die Bischofskonferenz ein, überall in den Pfarreien kleine Zuhörgruppen (gruppi di ascolto) zu bilden, um einen Stil des Miteinanders einzuüben, der unsere Grenzen weitet und sprengt. Dies scheint mir ein wesentlicher Punkt zu sein, an dem wir als Kirche heute konkret wachsen können. Wie wollen wir die Menschen mit dem Evangelium erreichen, wenn wir ihnen nicht zuhören? 

Zweitens: Drei Baustellen wurden für das kommende Jahr von der Bischofskonferenz definiert. Eine vierte Baustelle soll jede Diözese je nach ihrer spezifischen Situation und Geschichte festlegen. Diese Baustelle soll in unserer Diözese das Zusammenleben der Sprachen und Kulturen sein. Das Zusammenleben der deutschen, italienischen und ladinischen Sprachgruppe, aber auch das Zusammenleben mit den verschiedenen Sprachen und Kulturen, denen wir im Zuge der Migrationen in unserem Land begegnen. Die Baustelle des Miteinanders ist in einem positiven Sinn eine Dauerbaustelle. Das Zusammenleben ist kein Projekt, das irgendwann abgeschlossen sein wird, sondern ein Bau, der dazu bestimmt ist, täglich zu wachsen und zu reifen. Unser Land Südtirol feiert in diesem Jahr „50 Jahre Zweites Autonomiestatut“. Dabei dürfen wir bewusst und dankbar auch an Bischof Joseph Gargitter erinnern, der sich damals entschieden für das Zusammenleben der Sprachgruppen und für eine neue Versöhnungs-, Gesprächs- und Verhandlungskultur eingesetzt hat. Wir haben als Kirche in Südtirol in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Schritte gesetzt – auch hinein in unsere Südtiroler Gesellschaft.

Der synodale Weg mit den Kirchen Italiens soll für unsere Ortskirche, für die Pfarreien und Gemeinschaften unserer Diözese eine Gelegenheit werden, das Zusammenleben der Sprachgruppen in der Kirche unter die Lupe zu nehmen – unter den heutigen Bedingungen, die nicht mehr die Bedingungen von 1964 sind, wo unsere Diözese Bozen – Brixen entstanden ist. Es ist meine feste Überzeugung: Diese Baustelle des Miteinanders, die immer aktuell bleiben wird, ist nicht nur eine besondere Herausforderung für unsere Diözese, sondern unser Reichtum und unsere Berufung!

 

Auf das Gute achten 

Ich komme noch ein letztes Mal zurück zu Martha und Maria. Oft legen wir diesen Text allzu moralisierend aus. Wir konstruieren einen Gegensatz zwischen Spiritualität und tätigem Dienst, der uns so nicht weiterhilft. Beim heiligen Anselm von Canterbury findet sich eine interessante Deutung unseres Textes. „Eines ist notwendig“: Anselm bezieht diese Aussage auf Gott selbst. Der dreifaltige Gott ist das eine höchste Gut. Er allein existiert notwendig, während alles andere auch nicht sein kann. Er allein ist das höchste und einzige Gut, alles andere ist gut allein durch ihn. Während alles in der Welt entsteht und vergeht, ist Er das Eine, das bleibt: überquellende Liebe und ewige Glückseligkeit. Nur eines ist notwendig: diese Aussage Jesu bekommt von hier her noch eine ganz andere Wendung. Das eine Notwendige, es ist die Liebe und die Freude, in der Gott selbst sich offenbart. 

Wir sehen: der Kern der Erzählung von Martha und Maria ist nicht die Moral, sondern das Evangelium, die gute, lebensfördernde Nachricht! Jesu Wort an Martha ist keine Moral, sondern eine Einladung, in der Freude zu bleiben, den Blick auf das Gute zu wenden. Wie schwer fällt uns das oft in der Seelsorge. Wie leicht geraten wir in unseren Versammlungen ins Jammern und Klagen über all das, was nicht mehr ist wie früher. Die Liste wäre lang und sie stimmt oft auch! Dieses Jammern und Klagen helfen uns aber nicht wirklich weiter. Anselm von Canterbury würde in gut platonischer Tradition sagen: wer nur klagt und jammert, hält sich bei den nichtigen Dingen auf. Denn Gott ist das eine, notwendige Gute. Das Übel aber gibt es nur als Mangel, als Fehlen des Guten. Wer sich mit dem Übel beschäftigt, hält sich bei nichtigen Dingen auf. Und tatsächlich: immer wieder stelle ich fest, wie abstrakt, theoretisch und verallgemeinernd unsere Klagen sind. Darum helfen sie auch nicht weiter. Der einzige Weg, der zum Guten führt, ist die Beschäftigung mit dem konkret vorhandenen Guten. Es braucht den Blick und die Tat des Guten! Genau das ist der Hinweis Jesu an Martha: Schau doch nicht auf den Mangel, sondern schau auf das Gute, das Maria bereits gewählt hat. Das hat sie schon richtig gemacht, also freue dich über das, was schon da ist! 

Ich bete oft um eine neue Freude und Begeisterung für Jesus Christus und im Vertrauen auf ihn, den auferstandenen Gekreuzigten, um eine neue Freude und um eine neue Begeisterung für unsere Kirche! Diese Freude kann jungen Menschen Mut machen zu einem geistlichen Beruf. Diese Freude kann Frauen und Männer, junge und alte Menschen, motivieren, sich in Seelsorge und Kirche einzubringen – unter den heutigen Bedingungen! Mutter Teresa hat einfach recht, wenn sie sagte: „Die Freude am Glauben darf nicht nur in unseren Gebetsbüchern stehen; sie muss das Herz und das Gesicht eines Christen erfüllen“.

Sie sehen schon, wohin ich in Bezug auf die Seelsorge möchte: achten wir darauf, dass wir nicht wie Martha in die Falle tappen, einseitig den Mangel zu benennen und uns darüber zu beklagen. Sicher, überall gibt es das Fehlen und den Mangel. Mehr noch: Überall gibt es die zerstörerische Kraft der Sünde. Auch in der Kirche, von Anfang an, auch heute, bei uns selbst und in unseren eigenen Reihen. Aber Gottes Weg zu uns ist das Gute, die Liebe, die Freude, die Vergebung. Gott ist überall dort schon da, wo Gutes geschieht, und sei es noch so klein. Gott ist da in der Liebe, die Menschen einander schenken, er ist erfahrbar in der Freude. Das ist Gottes Weg zu uns, weil er selbst das eine notwendige Gute, die überfließende Liebe und die ewige Freude ist. Sicher ist es nicht verboten und oft sogar wichtig, auch das Schwere, das Belastende und das Misslungene zu benennen. Aber vielleicht wäre 5 zu 1 ein gutes Mischungsverhältnis: einmal Klagen muss mit fünf konkreten Zeugnissen von Liebe und Freude aufgewogen werden. 

Erfolgreiche Unternehmer verwenden dies als bewusste Strategie: der konsequente Blick auf die Stärken und die Investition in das, was gut läuft. Bei uns als Kirche geht es um viel mehr: der Blick auf das Gute ist für uns keine Unternehmensstrategie, sondern eine Überzeugung des Glaubens!

Wir sind in der Seelsorge nicht in einer einfachen Situation, mit all den Veränderungen und Umbrüchen, die es zu gestalten gilt, mit all den Fragen, auf die wir keine glatten Antworten haben. Die kirchliche Großwetterlage ist stürmisch. Glauben bedeutet: Wir haben Christus selber im Boot unserer Kirche und unserer Zeit – und ER steigt nicht aus! Er ist da und lädt uns ein, einander nahe zu sein, einander Wertschätzung zu zeigen, miteinander, gemeinsam voranzugehen. Mit Blick auf das konkrete Gute, das schon da ist. Mit Blick auf den nächsten guten und möglichen Schritt, den wir gemeinsam tun können. 


Dank

Lieber Generalvikar Eugen, liebe Mitbrüder im priesterlichen und diakonalen Dienst, liebe Ordensleute, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Bereichen der Seelsorge, ich bitte darum, dass wir den Weg gemeinsam weitergehen – unter dem Wort Gottes und auch untereinander verbunden durch einen ehrlichen, offenen und konstruktiven Dialog.

Einen tiefempfundenen Dank rufe ich dem emeritierten Generalvikar Josef Matzneller nach, den wir am 1. August aus dieser Welt hinausbegleitet haben auf die andere Seite des Lebens. Unsere Diözese verdankt ihm viel!

Mein ganz besonderer Dank gilt allen, die am Beginn dieses neuen Arbeitsjahres einen Auftrag oder einen Dienst abgegeben und zurückgelegt haben. Gerade bei Personalveränderungen erleben wir in unserer Diözese eine immer größere Not und Verletzlichkeit.

Einen aufrichtigen, herzlichen Dank spreche ich Generalvikar Eugen Runggaldier aus, der mir im wahrsten Sinn des Wortes als „alter ego“ zur Seite steht, konkret, ausgeglichen und tatkräftig. Einen aufrichtigen Dank auch an seine Assistenten Mario Gretter und Markus Moling.

Allen, die eine neue Aufgabe übernommen haben in unseren Pfarreien und Seelsorgeeinheiten, in der Caritas, im Ordinariat, im Priesterseminar und in den verschiedenen Bereichen der Seelsorge wünsche ich, dass wir uns gegenseitig stützen, helfen, ermutigen und zur Seite stehen.

Mein Dank gilt dem Seelsorgeamtsleiter Reinhard Demetz, der die Hauptverantwortung für diese Pastoraltagung trägt – in der Vorbereitung und in der Durchführung. Er bringt sich auch mit großer Bereitschaft in den italienischen synodalen Prozess ein, in den wir als Diözese eingebunden sind.

Es braucht uns alle – und es braucht uns gemeinsam! Romano Guardini sagte am Beginn des 20. Jahrhunderts ein Wort, das uns Mut machen kann auch in unserer Situation: „Es mag vielleicht bessere Zeiten gegeben haben als die unsere. Aber das ist unsere. Und in dieser Zeit sind wir als Christen gefragt!“

Bei meinen häufigen Fahrten zwischen Bozen und Brixen schenkt mir der Blick hinauf nach Säben immer auch Mut: Dreimal im Laufe ihrer langen Geschichte hat unsere Diözese ihren Namen gewechselt. Schon allein dieser Umstand zeigt, wie sehr Aufbruch, Umbruch, Veränderung, Tradition und Wandel, Kontinuität und Diskontinuität den Weg der Kirche durch die Geschichte immer prägen werden. Wir glauben an einen Gott, der in Jesus Christus selber „Geschichte“ geworden ist. Und deswegen ist unsere menschliche Geschichte nicht einfach ein anonymes, blindes, banales und oft sogar widersprüchliches und grausames Aufeinanderfolgen von Ereignissen, sondern der Ort, an dem Menschen Gott begegnen können. Heute sind wir als christgläubige Menschen gefragt. Heute rechnet der Herr mit uns. Weil Christus gestorben und auferstanden ist, ist auch unsere Zeit eine Heilszeit: Daran halte ich mich fest, in Freude und Hoffnung.  

Giulan, de gra, un sentito e cordiale grazie, vergelt´s Gott!