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Vorträge & Ansprachen

10. Weihejubiläum von Bischof Muser: 10 Jahre, 10 Fragen

Am 9. Oktober 2011 hat Ivo Muser sein Amt als neuer Bischof der Diözese Bozen-Brixen angetreten. Das Jubiläum seiner ersten 10 Jahre als Bischof ist Anlass, mit ihm auf das persönlich und kirchlich Erlebte zurückzublicken und in die Zukunft zu blicken.

Was bedeutet es, Bischof zu sein in der Kirche von Papst Franziskus?

Es gibt nicht die Kirche von Papst Franziskus, sondern nur die Kirche Jesu Christi. Papst Franziskus ist aber der Petrus von heute. Meine erste Begegnung mit ihm war am Abend des 14. April 2013 in der Casa S. Marta im Vatikan. Vier Tage später empfing er mich, gemeinsam mit weiteren sechs Bischöfen, zum Adlimina-Gespräch, das eine Stunde und vierzig Minuten dauerte. Seit dieser ersten Begegnung begleitet mich der Eindruck: Das ist ein innerlich freier Mensch! Ich empfinde ihn als einen Menschen und Amtsträger vom Schlag der biblischen Propheten: im Wort Gottes verwurzelt, unmittelbar, unbequem, herausfordernd, angstfrei, einer, der einlädt zur "Unterscheidung der Geister". Das alles tut der Kirche gut – auch mir als Bischof.

Mit welchen Gefühlen haben Sie Ihren Weg als Bischof vor 10 Jahren begonnen?

Ich bin Bischof geworden, weil Bischof Karl Golser wegen seiner schweren Krankheit zurücktreten musste. Diese schmerzliche Tatsache hat mich damals sehr beschäftigt. Dieses Vorzeichen, mit dem alles begonnen hat, empfinde ich aber nicht als Belastung, sondern als etwas, das mich hoffentlich reifen ließ und das mir geholfen hat, mein Leben noch mehr als Geschenk, Auftrag und Berufung zu verstehen. Die Ernennung durch Papst Benedikt am 27. Juli und noch mehr der Tag der Bischofsweihe am 9. Oktober 2011 waren verbunden mit einem Wechselbad der Gefühle, die mir durch Kopf und Herz gingen. Diese Tage haben mein Leben verändert und geprägt. In diesen zurückliegenden 10 Jahren hat mir mein bischöfliches Leitwort Mut, Freude, Überzeugung und eine große Entlastung geschenkt. „Tu es Christus“. Um dich, Christus, geht es. Es ist deine Kirche, nicht die meine! Dieses Leitwort ist für mich immer mehr zu einem persönlichen Gebet geworden. Weil Jesus von Nazareth der Christus ist, bin ich mit hoffnungsvoller Freude Christ, Priester und Bischof – und in allem Mensch.

Wie hat sich die Diözese Bozen-Brixen in diesen 10 Jahren verändert?

Der Wandel ist einschneidend und nicht mehr zu übersehen. Wir sind ärmer an Menschen geworden! Die Stimme der Kirche ist eine Stimme neben vielen anderen. Menschen empfinden Glaube und Kirche als Privatangelegenheit; sie entscheiden subjektiv, was sie annehmen, ablehnen, was ihnen gefällt, was für sie richtig und wahr ist. Die objektive Seite von Glaube und Kirche wird immer weniger geteilt. Auch bei zentralen Glaubensinhalten wählen Menschen aus. Viele wollen und verstehen die Sakramente als ein punktuelles Ereignis und immer weniger als ein Geschenk, das mein Leben prägt und bestimmt. Wenn ich einmal den Bischofsstab an meinen Nachfolger weitergeben werde, dann ist das Gesicht unserer Diözese ein ganz anderes geworden. Dabei macht mir Veränderung nicht Angst. Ich weiß um die Bedeutung von Strukturen, aber ich hänge nicht an ihnen; sie haben sich in der langen Geschichte der Kirche oft geändert. Vieles in der Kirche darf sich ändern. Schmerz empfinde ich, wenn ich den Eindruck habe: Es gibt zunehmend Menschen, denen die Kirche, die mir Heimat im Glauben ist, nicht mehr viel bedeutet. Dabei geht es mir nicht um ein äußeres Starksein oder um einen gesellschaftlichen Machtanspruch, sondern um die Überzeugung, dass das christliche Gottes- und Menschenbild uns so viel zu geben hat für unser Selbstverständnis, für unseren Umgang miteinander, mit der Schöpfung und mit allen brennenden Fragen, die zu unserem Menschsein gehören. Noch einmal anders ausgedrückt: Mit Jesus Christus kann ich leben – und was genauso wichtig ist: Mit ihm kann ich auch hoffnungsvoll sterben.

Wenn Sie drei einprägsame Momente aus diesen 10 Jahren auf kirchlicher oder gesellschaftlicher Ebene auswählen müssten, welche wären das?

Es gab viele einprägsame Momente, von denen ich erzählen könnte: Gottesdienste, Weihen, vor allem die Bischofsweihe von Michele Tomasi, Pastoralbesuche, Gespräche, Briefe, Entscheidungen, Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Menschen, Anliegen, Sorgen und Erwartungen. Oft sind es gerade die Momente, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, die nicht in einer Schlagzeile oder in einem Zeitungsartikel sich niederschlagen. Berührt war ich oft, wie viel Vertrauen mir entgegengebracht wurde. Drei einprägsame Ereignisse waren auf jeden Fall: die Seligsprechung von Josef Mayr – Nusser, unsere Diözesansynode, die Diskussion um den Doppelpass. Da habe ich für mich persönlich besonders erlebt, was es bedeutet, Bischof in dieser unserer Diözese zu sein und was die besondere „Stallluft“, Herausforderung und Berufung unserer Ortskirche ausmacht.

Was haben Sie in diesen 10 Jahren in der Südtiroler Gesellschaft schätzen gelernt und was bedauern Sie?

Viele Südtirolerinnen und Südtiroler setzen sich ehrenamtlich ein – oft über viele Jahre. Sie sind aktiv in Vereinen und Verbänden, im Bereich von Kunst und Kultur, in der Musik und im Sport, bei der Feuerwehr und in sozialen Einrichtungen und nicht zuletzt in unseren Pfarreien und in vielen kirchlichen Gruppen. Und das freiwillig und ohne Bezahlung; aus Freude und Interesse, aus Dankbarkeit, aus dem Glauben heraus, im Wissen, dass eine Gemeinschaft nur leben kann, wenn sich viele einbringen und zur Verfügung stellen, aus Liebe zu anderen Menschen oder auch im Wissen um den Wert unserer Kultur und Tradition. Sie sind einfach da für jene, die Hilfe brauchen, bei Veranstaltungen, im Sozial- und Pflegedienst, bei Unfällen und in Notsituationen. Diese Bereitschaft ist ein unschätzbarer Wert und ein Zeugnis echter Mitmenschlichkeit! Darauf können wir stolz sein.

Die weitverbreitete „Wir-sind-wir-Mentalität“ gefällt mir dagegen nicht. Oft habe ich erlebt, dass es eine ausgeprägte Haltung gibt, bei uns stehen zu bleiben, die eigenen Wunden zu lecken, uns besser zu fühlen und uns von anderen abzugrenzen – nach innen und nach außen. Damit hängt auch eine zunehmende Unzufriedenheit und Undankbarkeit zusammen und die Haltung, nur mehr zu fordern und immer mehr zu fordern. Dabei fordern wir auf hohem Niveau. Ein offener und ehrlicher Blick auf die Realität in vielen Teilen unserer Welt kann uns deutlich machen, was wir alles haben und dass wir wirklich nicht der Nabel der Welt sind. Ein solcher Blick macht betroffen, dankbar und führt zu guten Konsequenzen und Veränderungen

Der Bischof trifft jeden Tag viele Menschen. Können Sie uns von einer Begegnung erzählen, die Sie besonders beeindruckt hat?

Stellvertretend für ganz viele Begegnungen sei es mir erlaubt, wenigstens von drei zu erzählen. 2012: Eine 54jährige Frau erzählte mir, dass sie als Mädchen mehr als zehn Jahre lang von zwei ihrer Onkel sexuell missbraucht wurde. Besonders schlimm und erniedrigend empfand sie, dass ihre Mutter davon wusste und nicht den Mut aufbrachte, dagegen einzuschreiten, weil sie finanziell von ihren Brüdern abhängig war. Die Art und Weise, wie diese Frau über ihr Leid erzählen konnte, hat mich zuinnerst berührt. Und am meisten beeindruckt hat mich ihre Bereitschaft, zu vergeben – trotz allem.

2016: Eine junge Mutter erzählte mir in einem langen, bewegenden Gespräch, dass sie ein schwer behindertes Kind erwartet. Trotz der ablehnenden Haltung ihres Mannes wollte sie ihr Kind zur Welt bringen. Inzwischen hatte der Mann sie verlassen; sie blieb bei ihrer Entscheidung. Bewundernswert!

2017: Ein Ehepaar aus der ehemaligen Sowjetunion erzählte mir, dass ihre Großfamilie in der Zeit des Kommunismus fast zwanzig Jahre lang ohne Priester und Eucharistiefeier "überlebte". Sie trafen sich Sonntag für Sonntag im Geheimen, lasen das Wort Gottes, beteten die Messtexte und legten eine alte Stola auf den Tisch, die sie vom letzten, verstorbenen Priester ihrer Gemeinschaft noch hatten. So verbanden sie sich im Gebet mit jener Eucharistiefeier, die geographisch am nächsten zu ihnen gefeiert wurde. Ein Glaubenszeugnis, das mich sehr berührt hat.

In den letzten Jahren sind alle Diözesen vom Rückgang der Zahl der Priester betroffen, auch die Diözese Bozen-Brixen. Wie erleben Sie das?

Das geht an die Substanz und diese Entwicklung trifft den Nerv unserer Kirche. Dabei ist es mir viel zu wenig, nur vom Rückgang der Priester zu sprechen. Genauso stark ist der Rückgang an Gläubigen. Dieser Rückgang ist noch folgenreicher. Ohne den sakramentalen Dienst unserer Priester werden Pfarrgemeinden von innen her ausgehöhlt und ohne Gläubige verliert eine Pfarrgemeinde ihre Existenzberechtigung. Da ist nichts zu beschönigen. Es geht heute um Sein oder Nichtsein. Es geht um viel mehr als um eine Kirchenkrise. Für mich geht es um die Gottesfrage selber. Wenn die Entwicklung so weitergeht, werden viele unserer Pfarreien und auch Ordensgemeinschaften keine Zukunft haben. Ich frage mich oft: Wollen wir das? Was würde Südtirol, Italien, Europa und der Welt alles fehlen, wenn es die Botschaft Jesu und alles, was mit Kirche zu tun hat, nicht mehr geben würde? Denken wir uns konsequent alles weg, was in unserer Gesellschaft mit Glaube und Kirche zu tun hat, wirklich alles. Was bleibt da noch übrig? Wird es da nicht viel kälter, trostloser, unbarmherziger?

Die letzten zwei Jahre waren von der Corona-Pandemie geprägt. Welche Zeichen erfüllen Sie dennoch mit Hoffnung?

Von allein wird uns die Coronaerfahrung nicht besser machen. Krisen können das Beste im Menschen fördern, aber auch die dunklen Seiten. Wir erleben es immer mehr, wie sehr diese Pandemie unsere Gesellschaft spaltet. Ich wäre aber kein Christ, wenn ich nicht hoffen würde. Trotz allem habe ich in diesen beiden Jahren viel Gutes erlebt und von vielem Guten gehört. Es gab viel Solidarität, Zeichen von Nähe, Verantwortung und konkrete Hilfe. Sorge bereitet mir aber auch die weitverbreitete Haltung: Wieder möglichst schnell zurück zu dem, wie es war – ohne Verzicht, ohne Umdenken, mit vielen Forderungen. Wofür werden wir uns entscheiden? Diese Pandemie kann uns Entschleunigung lernen und uns helfen, unsere Lebenseinstellung und unsere Lebensplanung zu überdenken. Nichts in unserem Leben ist selbstverständlich. Wir haben nicht auf alles ein Recht. "Weniger wollen" schärft den Blick für das Wesentliche und für das Viele, das wir haben – und macht uns dankbarer, Gott und den Menschen gegenüber. Diese Pandemie zwingt uns in die Knie, damit wir verändert und gestärkt aufstehen können. Hoffentlich hilft uns diese Krise, um über Freiheit und Verantwortung nachzudenken. Aber das alles wird nur geschehen, wenn wir es gemeinsam wollen.

Welche Schritte soll die Glaubensgemeinschaft für die Zukunft setzen?

Das „Programm“ müssen wir als Kirche nicht neu erfinden. Unsere Schritte in die Zukunft sind immer zurückgebunden an Jesus von Nazareth, an seine Person und an sein Evangelium. Das ist die Identität der Kirche und das ist die ständige Umkehr und Erneuerung, an der die Kirche zu messen ist – oft auch schmerzlich und beschämend für uns selber. Der Weg der Kirche ist der Mensch, um es mit Papst Johannes Paul II. zu sagen. Ohne die Identität, die in der Beziehung zum Mensch gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus besteht, haben wir als Kirche den Menschen mit ihren Fragen, Nöten, Wunden und Hoffnungen nichts zu geben. Zu diesem Weg der Kirche gehören auch in Zukunft das Ringen, das Fragen, das Suchen, das Zweifeln, das Nichtverstehen, das Klagen, das Bitten und das Schreien genauso dazu wie das Danken, das Loben, das Hoffen, das Teilen, das Verstehen, das Feiern, die Freude und das Jubeln - mit Jesus Christus, dem Auferstandenen, als verbindende, einigende und entlastende Mitte. Zu meiner Bischofsweihe vor 10 Jahren habe ich mir vom Brixner Domchor nur ein Lied gewünscht: den Choral von Johann Sebastian Bach „Jesus bleibet meine Freude“.

Was erhoffen Sie sich für die nächsten Jahre als Bischof?

In einem Interview wenige Tage vor meiner Bischofsweihe wurde ich gefragt: „Was sollte man über Sie sagen können am Beginn der Amtszeit Ihres Nachfolgers?“ Eine gute Frage an jemanden, der noch gar nicht begonnen hat. Diese Frage begleitet mich seit 10 Jahren und sie lässt mich nicht los. Wünschen würde ich mir, dass man über mich sagen könnte: „Wir haben ihn erlebt als einen gläubigen Menschen und er hat als Bischof in seiner Zeit mitgeholfen, dass uns der christliche Glauben erhalten bleibt als Freude, Hoffnung, Halt, Orientierung und als ein Zugehen auf ein großes Ziel“.