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Predigten

Forum Alpbach 2025

Bischof Ivo Muser

Sonntag, 17. August 2025

Alpbach

Nicht gerade sommerliche Urlaubstöne haben wir jetzt im Evangelium gehört. Im Gegenteil. Da wird es ungemütlich und sehr herausfordernd. Da ist die Rede von einem Feuer, das Jesus auf die Erde wirft und das er brennen sehen möchte. Da geht es um eine tiefgehende Zerrüttung, die durch Häuser, Beziehungen und Familien geht. „Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf der Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, sondern Spaltung?“ (Lk 12,51).

Mit diesen starken, aufrüttelnden und unbequemen Worten geht es um etwas Grundlegendes: Es gibt keine distanzierte, folgenlose Entscheidung. Wer immer nur den Weg des geringsten Widerstandes gehen möchte; wer sich ständig dreht wie ein Fähnchen im Wind; wer sich für einen faulen Frieden entscheidet, der nur das sagt und tut, was gerade in ist und was einen Vorteil bringt; wer jeden Konflikt vermeiden möchte, um ja nirgends anzuecken; wer sich und den anderen nur nach dem Mund redet – kann sich offenbar nicht auf Jesus berufen. Der unbequeme Evangeliumstext dieses Sonntags sagt es ungeschminkt: Es gibt keinen „softy Jesus“. Es gibt keinen belanglosen Jesus. Ein belangloser Jesus wäre nicht am Kreuz hingerichtet worden.

Sören Kierkegaard, der dänische Religionsphilosoph, sagte einmal: „Es gibt zwei Arten von Christen; die Bewunderer und die Nachfolger. Wenn Sie herausfinden wollen, wen Jesus sucht und braucht, schauen Sie in sein Evangelium hinein!“

„Recharge Europe", lautet das Motto dieser Tage hier in Alpbach. Wir können es so übersetzen: Europa aufladen. Neue Energie tanken in und für Europa. Europa wieder Energie geben. Europa wiederbeleben. Warum nicht auch: Feuer und Flamme sein für Europa!

Auf dem Hintergrund dieses Mottos, das durchaus auch zu tun hat mit dem Feuer, von dem das heutige Evangelium spricht, lege ich uns allen ein Anliegen ans Herz, das uns verbinden kann und das uns hilft, unsere Geschichte gemeinsam weiterzuschreiben: das Friedensprojekt Europa. Mir geht es dabei um eine Hoffnung und um einen Einsatz, die sich orientieren am christlichen Glauben.

Europa braucht eine Seele. Ohne ein kräftiges Bindemittel hat das „Projekt Europa“ bei allen Vorteilen, die es politisch und wirtschaftlich bietet, keine Zukunft. Dabei kann der Kitt nicht einfach in der Restauration von Vergangenheit liegen. Wir müssen lernen miteinander zu leben, nicht nebeneinander. Wir haben in Europa so viele verschiedene Kulturen auf heimatlichem Boden. Dieser Reichtum darf nicht nivelliert werden; er muss das vereinigte Europa prägen.

Der Begriff des „christlichen Abendlandes“ ist in bestimmten Kreisen wieder populär geworden. Nur: Nicht alles, was sich auf das Christentum beruft, ist auch vom Christentum geprägt. Nicht selten wird heute das „christliche Abendland“ nur mehr als ein Abgrenzungs- und als ein Kampfbegriff verwendet - gegen die anderen, wer immer sie auch sind. Wir wissen es alle: Man kann das Christentum auch missbrauchen – in Geschichte und Gegenwart.

Die Europäische Union ist nach den dramatischen Erfahrungen der Diktaturen und des 2. Weltkriegs gegründet worden, durchaus auch als christlich –humanistische Wertegemeinschaft. Robert Schumann, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi, die bekanntesten Gründerväter eines geeinten Europas, waren überzeugte Katholiken. Der europäische Geist verliert heute aber an Kraft. Das Wir-Gefühl bröckelt. Das große Wir zerfällt in immer kleinere Wir. Im Haus Europa sind die Bewohner dabei, sich wieder mehr in ihre eigenen vier Wände zurück zu ziehen. „Vorsicht vor diesem Wir“ – kann man nicht selten hören! Nationalistische, fremdenfeindliche, aggressive, ausgrenzende und populistische Töne werden wieder salonfähig – immer auf der Suche nach einem gemeinsamen Feind, von dem wir uns schützen und abgrenzen müssen.

Die vielen neuen Wir liebäugeln mit Grenzen. Manchmal habe ich den Eindruck: Jede Gelegenheit ist dafür recht. Der kühne Gedanke der ersten Christen war ein anderer. Paulus hat entscheidend dazu beigetragen, das Christentum nach Europa zu bringen. Von ihm stammt die Aussage: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Über sich selber schreibt der Völkerapostel: Er sei den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche geworden (vgl. 1 Kor). Es geht um eine Identität, die die eigenen Wurzeln kennt, liebt, pflegt, verteidigt und lebt – aber immer im offenen und konstruktiven Dialog mit der Identität der anderen. Das ist das christliche Ringen, um Europa eine Seele zu geben.

Wir brauchen eine neue europäische Humanität. Damit diese Wirklichkeit werden kann, braucht es Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision. Elie Wiesel, ein Überlebender des Holocaust, sprach von einer „Transfusion des Gedächtnisses“. Erinnerung heißt Befreiung von den alten Feindbildern und von den Methoden sie aufzubauen und zu rechtfertigen. Erinnerung bedeutet auch, den politischen Willen aufbringen, der aus alten Feinden Partner und Freunde macht.

Mögen wir als Menschen der Hoffnung unser Leben gestalten; möge es uns geschenkt sein, Einheit in der Vielfalt zu wollen und zu leben; mögen wir an einem gemeinsamen Europa bauen, wo verschiedene Sprachen und Kulturen sich auf heimatlichem Boden begegnen und gegenseitig bereichern; und möge unser Zusammenleben diesseits und jenseits des Brenners geprägt sein vom festen Willen, aus der großen, aber auch leidvollen Geschichte Tirols und unseres Kontinents zu lernen.

Ich wünsche uns, dass wir – jede und jeder von uns mit der je eigenen Verantwortung - brennen für das „Friedensprojekt Europa“, in einer Zeit, in der es wieder dramatische Brandherde gibt. Frieden in unseren Gedanken, Worten und Taten. Unsere Gedanken sind nie neutral und unsere Worte verraten uns immer. Frieden für die Ukraine und für die Menschen in Gaza und im gesamten Heiligen Land. Frieden überall dort, wo Kriegsrhetorik und Kriegslogik das Leben der Menschen prägt und oft sogar vernichtet.

Möge das Feuer eines gewollten, geförderten, gerechten und gelebten Friedens in uns brennen und sich auch durch uns ausbreiten!

Foto: EFA/Andrei Pungovschi