Heute werfe ich einen Blick weit nach vorne. Wie könnte eine Vision für unsere Diözese in 15 Jahren aussehen? Ich habe einen Impuls dazu vorbereitet. Die wertvollen Beiträge, die wir gestern hören durften, sind hier noch nicht berücksichtigt. Dazu lade ich euch in den Workshops nach meinem Impuls ein: Setzt das Gehörte mit den Eindrücken von gestern und mit euren eigenen Erfahrungen in Beziehung. Ich möchte gemeinsam mit euch nach vorne schauen und einen Traum wagen. Ich freue mich schon auf eure Beiträge!
Wie könnte unsere Ortskirche in 15 Jahren aussehen? Was sehen wir, wenn wir uns gedanklich ins Jahr 2038 begeben? Welche Schritte haben zu dem geführt, was wir sehen?
2038 sind wir weniger, bescheidener und machtloser. Unsere Feiergemeinden sind radikal kleiner, die Kirche ist in der Gesellschaft weniger relevant und akzeptiert. Wir haben gelernt, diese Realität anzunehmen und im Licht des Evangeliums zu deuten. Wir haben verstanden, dass dies die Wirklichkeit ist, in der uns Gott begegnet, beruft und sendet. Je bescheidener und machtloser wir geworden sind: umso mehr haben wir erkannt, dass Gott unsere Stärke und unsere Kraft ist. Der Verlust von gesellschaftlichem Einfluss hat uns geholfen, eine Kirche der Seligpreisungen zu werden, die aus ihrer Schwäche ihre Kraft und Glaubwürdigkeit schöpft.
Wir sind vom Evangelium beseelt. Wer sich 2038 für Christus entscheidet, tut das bewusst und will das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe leben. Darum sind wir geistlichergeworden. Unsere christlichen Gemeinschaften sind geprägt von Menschen, die nach Gott suchen, intensiv beten, auf sein Wort hören und den Glauben feiern. Weil die Menschenliebe und die Gottesliebe untrennbar zusammengehören, sind wir auch missionarischer geworden: Die Freude und Hoffnung der Menschen, ihre Trauer und Sorge sind die Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst der Jüngerinnen und Jünger Christi! (GS1) Vom Evangelium beseelt nehmen wir Anteil am Leben der Menschen und verkünden so die Frohbotschaft Christi.
Wir sind gerne Christinnen und Christen. Weil uns das Evangelium beseelt, haben wir Freude am Glauben, und teilen eine positive Erfahrung von Kirche. Wenn wir an Kirche denken, dann denken wir zuerst an die lebendige Gemeinschaft, die wir selbst vor Ort erleben. Wir haben vom Defizit geprägte Erzählungen überwunden, indem wir Probleme und Missstände offen angesprochen und aufgearbeitet haben, im Großen, wie im Kleinen. Wir haben Verantwortung geteilt. Die Synodalität hat sich in der Kirche als Stil durchgesetzt und uns geholfen, Blockaden, Polarisierungen und Abwärtsschleifen zu überwinden, die in der Vergangenheit manchmal den Blick auf die Schönheit des Evangeliums verstellt haben. Die positiven Erfahrungen, die die Menschen in ihren je konkreten Glaubensgemeinschaften machen, entfalten so ihre Kraft und wirken ansteckend.
Wir stehen 2038 dort, wo wir stehen, weil wir vor allem zwei Stärken entwickelt haben:
Erstens: Wir sind stark im Hören. Weil wir Gott und die Menschen lieben, suchen wir ihre Nähe, möchten ihnen zuhören, an ihrem Leben teilhaben.
Auf das Wort Gottes hören wir in besonderer Weise in kleinen christlichen Gemeinschaften. Menschen treffen sich in nachbarschaftlichen und freundschaftlichen Kreisen, lesen gemeinsam die Bibel und tragen Sorge für die Menschen in ihrem Umfeld. Diese kleinen Gruppen tragen das christliche Leben in unserer Diözese und erreichen Menschen, die über die traditionelle Pfarrstruktur nicht erreicht werden konnten. Viele Menschen erleben das gemeinsame Gespräch über Glauben und Leben als wichtige Kraftquelle in ihrem Leben.
Das Hören auf das Wort Gottes und das Hören auf die Menschen gehören für uns untrennbar zusammen. Darum steht die Frage „wer braucht unsere Nähe?“ fix auf der Tagesordnung, wenn wir uns als Christinnen und Christen treffen, egal, ob dies im Pfarrgemeinderat, im Verein, einer Bewegung oder in einer losen Gruppierung passiert. Wo wir zusammenkommen, gehört ein Teil unserer Zeit und unserer Energie immer den Ausgeschlossenen, den Armen, den Kranken, den Obdachlosen, den Menschen mit Behinderung. Wir stehen in einem lebendigen Austausch mit zivilgesellschaftlichen Vereinen und Institutionen, weil uns die Menschen wichtig sind und weil wir besonders jenen nahe sein möchten, die am Rande stehen.
Das Hören findet seine Mitte in der Feier der Liturgie, vor allem in der Feier der Eucharistie. Hier, im Wort und im Sakrament, begegnen wir Gott und unseren Mitmenschen und schöpfen Orientierung für den Alltag. Wir legen alle Kraft in die missionarische Präsenz der feiernden Gemeinde, auch in kleinen Ortschaften. Die Wortgottesfeier spielt eine wichtige Rolle, weil sie uns hilft, intensiv auf das Wort Gottes zu hören und uns öffnet für das Geschehen und den Auftrag der Eucharistie. Wie die Emmausjünger erkennen wir den intensiven Zusammenhang SEINER Gegenwart im Wort und im Sakrament. Für meine Vision zitiere ich eine Stimme aus der Vergangenheit unserer Ortskirche. Bischof Wilhelm Egger schrieb in seinem Büchlein „Geheimnis des Glaubens. Eine Erklärung der Heiligen Messe“: „Im katholischen Glaubensverständnis bildet die Eucharistie den Mittelpunkt für das Leben der Kirche, für die Pfarrgemeinde, für alle Getauften. … Eine eucharistische Denk- und Lebensweise steht im Gegensatz zu manchen heute verbreiteten Denk- und Verhaltensweisen. Wir sind in Gefahr, uns nur auf uns selber zu verlassen. Eine dankbare Lebenshaltung lässt uns erkennen, wie viel wir Gott – und auch den Mitmenschen – verdanken.“
Dabei haben wir gelernt, nicht auf die Zahl der Mitfeiernden zu schauen, sondern auf Christus, der mitten unter uns ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind.
Zweitens: Wir sind stark in Beziehung. Wir haben gelernt, dass gute und starke Beziehungen das Maß unseres Handelns sind. Wir pflegen Beziehung auf allen Ebenen. Unsere Pfarreien fördern ein gutes Miteinander unter den Menschen vor Ort, aber auch zwischen den Verbänden, Bewegungen und Institutionen. In der Seelsorgeeinheit helfen sich die Pfarreien untereinander aus, sie unterstützen und inspirieren sich gegenseitig. Das bischöfliche Ordinariat hat einen guten Draht zu den Pfarreien, Verbänden, Bewegungen und Einrichtungen und bietet ihnen Rat und Unterstützung. Und nicht zuletzt prägt ein lebendiger Dialog zwischen unserer Diözese und den anderen Diözesen im engeren Umkreis und weltweit unsere Erfahrung von Kirche, immer auch in überzeugter Verbundenheit mit dem Papst. Wir sind keine Nationalkirche, sondern weltweite, missionarische Glaubensgemeinschaft! Diese guten Beziehungen haben für uns Priorität und sind motivierender und lebendiger Ausdruck unseres Katholisch – Seins.
Wir sind stark in Beziehung heißt für uns auch: wir sind gut organisiert. Leitungsteams, die kirchenrechtlich und zivilrechtlich anerkannt sind, tragen unsere Pfarreien. Unsere Diözesansynode 2013 -2015 hat hier wichtige Akzente gesetzt. Wir haben unseren Weg gestaltet zusammen mit dem Synodalen Weg der Kirchen in Italien und eingebunden in den weltweiten Synodalen Prozess. Durch die Pastoralteams ist es gelungen, den Menschen vor Ort Vertrauen und Verantwortung zu geben. So wächst vor Ort eine positive und starke Erfahrung von Kirche. Für den priesterlichen Dienst sind durch die Leitungsteams neue Perspektiven entstanden. Dank überschaubarer, sinnvoller und klarer Aufgaben erleben die Priester ihren Dienst als Erfüllung und auch junge Menschen spüren eine Berufung dazu. Das „gemeinsame Priestertum aller Gläubigen“, das seine Grundlage in Taufe und Firmung hat, und der sakramentale Dienst, der durch das Weihesakrament übertragen wird, prägen unsere Beziehungen und unsere gegenseitige Wertschätzung. Wir haben Kirche vor Ort, nahe an den Menschen und nahe am Leben aufgebaut. Unsere Kirche ist dadurch heterogener und vielfältiger geworden. Wir erleben eine Vielfalt von Gemeindeformen, von Feierformen, von Diensten, von spirituellen Akzentsetzungen. Diese Vielfalt ist ein Reichtum und die Kirche beginnt wieder zu wachsen.
2038 erleben wir: Der Glaube ist ein Geschenk für die Menschen. Daran erkennen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind: viele Menschen spüren unsere Freude am Evangelium und fühlen sich dadurch selbst beschenkt. Viele Menschen haben wieder neu entdeckt, was uns selber und unserer Gesellschaft alles fehlen würde, wenn es die Botschaft Jesu und die Präsenz von Kirche nicht mehr geben würde. Als Christen leben wir nicht für uns selbst, sondern wir tragen zum guten Leben aller bei. Wir feiern den Sonntag und das Kirchenjahr, wir begleiten Menschen an den freudigen und traurigen Momenten des Lebens, wir bezeugen einen Sinn jenseits des materiellen Lebens: so sind wir in unseren Dörfern und Städten präsent und erfahrbar. Wir sind da, als Gemeinschaft, die vom Evangelium beseelt ist, stark im Hören, stark in Beziehung, gut organisiert. So geben wir Zeugnis von Christus und von seinem Evangelium. So ist der Glaube ein Geschenk für die Menschen.
Soweit mein Traum für unsere Kirche in 15 Jahren. Ein Traum, getragen von der Kraft und Hoffnung unseres Osterglaubens! Ein Traum, der darauf vertraut, dass der auferstandene Herr im Boot seiner Kirche ist und ganz bestimmt nicht aus diesem Boot aussteigt! Sicher reibt sich unsere Wirklichkeit in vielen Punkten und Situationen an diesem Bild, sicher wird manches ganz anders werden.
Meine Fragen an euch heute lauten: Was spricht euch an diesem Traum an? Wie würde euer eigener Traum aussehen, was wäre darin anders? Wo reibt sich euer Traum an der Wirklichkeit? Wie können wir unsere Wirklichkeit gestalten, was können wir heute tun, was kann ich heute tun, damit wir diesem Traum ein Stück näherkommen – mit IHM in der Mitte und gemeinsam als SEINE Kirche auf dem Weg durch die Geschichte?
2038 wird unsere Diözese – nach unserer heutigen menschlichen und begrenzten Vorausschau – , einen anderen Bischof haben, den 104. in der langen Bischofsliste von Säben, Brixen und Bozen – Brixen. Ich danke allen, die jetzt und unter den heutigen Bedingungen mit Freude, Hoffnung, Einsatz und Verantwortung mit mir den Weg unserer Ortskirche weitergehen im Vertrauen auf das Versprechen des Auferstandenen: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20)