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Hirtenbriefe

Fastenhirtenbrief 2023: Mut zum Verzicht

Bischof Ivo Muser

Aschermittwoch, 22. Februar 2023

 

Mut zum Verzicht
 

Liebe Schwestern und Brüder in unserer Diözese Bozen – Brixen!

Längst wissen wir, dass unser Lebensstil der Erde und dem Klima arg zusetzt. Da ist etwas aus dem Lot geraten und die Konsequenzen sind nicht mehr wegzudiskutieren. Grenzenloses Wachstum und begrenzte Ressourcen gehen eben nicht zusammen. Wenn wir das nicht einsehen wollen, werden wir gezwungen sein, es einsehen zu müssen – unter Umständen auf schmerzliche Weise.

Alles muss wachsen, jedes Jahr: So lautet ein weitverbreitetes Dogma in unserer Gesellschaft. Und wenn das Wachstum nicht deutlich und entschieden ausfällt, wird eine düstere Stimmung erzeugt und verbreitet. Die negativen Folgen eines rein ökonomisch ausgerichteten Mentalitäts- und Denkansatzes werden sehr selten angesprochen.

Verzicht wird meistens mit Verlust gleichgesetzt. Die Fastenzeit ist ein Kontrapunkt: Verzicht ist nicht Schwäche, sondern Stärke und Gewinn.
 

Darauf sollten wir verzichten: Alles schlechtzureden

Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Skandalgeschichten verkaufen sich immer gut. Wer Schlechtes zu erzählen weiß, bekommt genügend Sympathisanten und Sympathisantinnen, die es mit Freude und Einsatz unter die Menschen bringen.

Es ist sicher richtig und wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen. Das Böse und die Sünde können dort ihr Unwesen treiben, wo sie verdrängt, vertuscht und geleugnet werden. Die Fastenzeit ist deswegen eine besondere Einladung, die Masken abzulegen und uns der Wahrheit zu stellen, die frei macht - auch wenn diese Wahrheit weh tut. Aber genauso gefährlich ist es, alles schlechtzureden, überall das Haar in der Suppe zu suchen, andere zu verdächtigen, an den Pranger zu stellen, alles über einen Kamm zu scheren, alles zu kritisieren, alles weiterzusagen, was man weiß oder zu wissen glaubt. Schon das Evangelium warnt vor einer fanatischen Unkrautbekämpfung, die Gefahr läuft, mit dem Unkraut auch den Weizen auszureißen (vgl. Mt 13,24-30).

Deswegen empfehle ich: bewusst das Gute zu sehen und darüber zu sprechen; auf Kritiksucht zu verzichten; Gutes zu erzählen und weiterzusagen; Anerkennung und Dank sich nicht nur zu denken, sondern auch zu äußern und zu verbreiten; bewusst ein Lob auszusprechen. Schlechte Nachrichten haben eine verführerische Anziehungskraft, aber wir können nicht davon leben. Wir brauchen gute, Leben fördernde Nachrichten!

Wie anders könnte unser Denken, Reden und Tun aussehen, wenn wir uns leiten ließen, vom Wort des heiligen Augustinus: "Ich hasse die Sünde und liebe den Sünder", und von der Empfehlung des heiligen Franz von Sales: "Ich muss beim Tadeln eines Fehlers so viel wie möglich die Person schonen, die ihn begangen hat".
 

Darauf sollten wir verzichten: Immer mehr haben zu wollen

Wir leben in einem reichen Land und wir dürfen dankbar dafür sein, dass wohl noch nie in der Geschichte unserer Heimat es so vielen Menschen finanziell und materiell so gut ging wie heute. Gleichzeitig erleben wir auch in Südtirol: Materieller Wohlstand und Konsumsteigerung allein haben die Menschen nicht zufriedener gemacht. Anlass zu Sorge bietet die Einstellung, wo vor allem in Anspruchskategorien gedacht wird. Dankbarkeit und Maß sind für viele keine Leitwerte mehr. Viele haben sich daran gewöhnt, nur mehr zu fordern und immer mehr zu fordern. Eine solche Lebenssicht verstellt den Blick auf Formen der Armut, die es auch in unserem Land gibt, vor allem auf die Formen neuer Armut, die Menschen und Menschengruppen getroffen hat und trifft.

Es gibt in vielen Bereichen eine Übersättigung, eine Sattheit, an der man auch verhungern kann. Die Fastenzeit will uns gewinnen für eine Entschleunigung: "Weniger wollen" schärft den Blick für das Wesentliche und macht sehender und auch empfänglicher für alles, das wir haben.

Deswegen empfehle ich: das Maßhalten und die Dankbarkeit. Wer Maß hält, entdeckt entlastend und befreiend, dass wir Vieles überhaupt nicht brauchen. Die Dankbarkeit bringt uns in ein gelösteres und freieres Verhältnis zu uns selbst, zu Menschen und Dingen, und zu Gott, dem Geber alles Guten. Nicht zufällig heißt die höchste Form christlichen Betens: Eucharistie, Danksagung. Gläubige Menschen sind dankbare Menschen. Nur dumme, oberflächliche und arrogante Menschen danken nicht und nehmen alles für selbstverständlich. Es genügt nicht, sich einen Dank nur zu denken. Sprechen wir oft das „Danke“ aus. Das schafft und prägt Beziehungen!
 

Darauf sollten wir verzichten: Alles zu einem "Event" verkommen zu lassen

Eine Schlagzeile jagt die andere; eine Veranstaltung gibt der anderen die Türklinke in die Hand; ein Event löst das nächste ab. Es muss immer etwas los sein. Oft habe ich den Eindruck: Menschen haben Angst vor dem Normalen, dem Gewöhnlichen, dem Alltäglichen, vor der Stille, die uns mit uns konfrontiert.

Das "Normale" hat es auch in der Kirche heute oft schwer. Nicht selten reihen sich auch kirchliche Termine und Feste in eine solche "Eventmentalität" ein.

Die Feiern der Sakramente bleiben nicht selten isolierte, punktuelle Ereignisse. Sakramente brauchen eine Vorgeschichte und eine Wirkungsgeschichte. Der Glaube ist nicht ein Event, sondern ein Geschenk, eine Beziehung und ein Weg. Meine Taufe ist ein Lebensauftrag; meine Firmung hat Konsequenzen; die Ehe entscheidet sich nicht am Hochzeitstag; das Sakrament der Weihe zielt auf einen Lebensentwurf für andere; das Mitfeiern des Gottesdienstes kann sich nicht auf den Ostersonntag und auf einige seltene Gelegenheiten beschränken.

Gerade die Fastenzeit ist die Einladung, das Normale, Gewöhnliche und Alltägliche wieder neu zu lernen und zu schätzen – und auszusteigen aus einer "Eventkultur"!
 

Darauf sollten wir verzichten: Auf Gewalt im Denken, Reden und Tun

Jesus zog auf einem Esel in die Stadt Jerusalem ein, und noch dazu auf einem, der ihm nicht einmal gehört hat. Der Esel ist ein Symbol des Friedens und der irdischen Machtlosigkeit. Jesus steht nicht für irdische Gewalt. Sein "Königtum" bleibt zerbrechlich in dieser Welt. Aber allein von ihm her wird die Welt lebenswert, menschlich, weniger kalt.

Nicht die Gewalttätigen, die Radikalen, die Hardliner, die Angstmacher, die Scharfmacher, die Arroganten und die Revolutionäre machen unsere Welt menschlich – auch nicht die wohlmeinenden unter ihnen. Sie hinterlassen immer Scherben, Blut und sehr oft auch Leichen. Dafür steht in der Leidensgeschichte der Evangelien der gewalttätige Barabbas. Es macht sehr nachdenklich, dass „Barabbas“ wörtlich „Sohn des Vaters“ heißt. Jesus, der in einem ganz anderen Sinn „der Sohn des Vaters“ ist, will uns für seine Alternative gewinnen: Er steht für die Gewaltlosigkeit, die Güte, die Wahrhaftigkeit, die Treue, die Hingabe, die Versöhnung und für die Gewissheit, dass Gott selbst dies alles ist. Für wen entscheiden wir uns: für Barabbas oder für Jesus?

In der Ukraine haben seit einem Jahr die Panzer, die Waffen, die Bomben und der Terror das Sagen. Sie hinterlassen das, was jeder Krieg mit sich bringt: Zerstörung, Verwüstung, Erniedrigung, Verletzung der Menschenwürde, Flucht, Angst, Tod. Beten wir oft in dieser Fastenzeit um die Bekehrung jener Menschen, die diesen Krieg und alle anderen Kriege wollen und führen. Wir bitten für uns um Gedanken, Worte und Zeichen der Versöhnung. Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens – in meiner Familie und Verwandtschaft, in meiner Umgebung und Pfarrgemeinde, in Kirche und Gesellschaft.
 

Darauf sollten wir nicht verzichten: Auf die Hoffnung, die Ostern schenkt

In einem Brief hat eine Frau aus dem Vinschgau mir die Frage gestellt: "Was wäre Ihrer Meinung nach für die Kirche das Schlimmste?" Meine Antwort war: "Dass es Ostern nicht gibt!"

Ohne Ostern müsste die Kirche Konkurs anmelden; ja, sie wäre überhaupt nicht entstanden. Ohne Ostern bricht alles, was den Glauben, die Verkündigung, das Feiern und das Leben der Kirche ausmachen, wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Weil aber Ostern geschehen ist, braucht es die Kirche. Deswegen braucht es gläubige Menschen, die nicht aufhören, eine große Hoffnung in diese Welt hineinzusagen: Jesus, der Gekreuzigte, lebt! Der Tod hat nicht das letzte Wort; es lohnt sich, zu hoffen; unser Leben endet nicht im Grab; der Mensch hat Würde und Zukunft. Deswegen wagt diese menschliche Kirche, die "zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig" ist (II. Vatikanisches Konzil), in der Osternacht zu singen: "Wahrhaftig, umsonst wären wir geboren, hätte uns nicht der Erlöser gerettet. O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden".

Von Ostern her wird mir immer wieder neu deutlich, welches Geschenk es ist, Jesus zu kennen und von ihm her auf diese Welt und auch auf mein Leben zu schauen. Christinnen und Christen sind Menschen der Hoffnung - durch alles hindurch. In seiner Predigt zum „Welttag der Armen“ am 14. November 2021 sagte Papst Franziskus: „Das wird von uns verlangt: inmitten der alltäglichen Verfallserscheinungen der Welt unermüdliche Baumeister der Hoffnung zu sein; Licht zu sein, während die Sonne sich verfinstert; Zeugen des Mitgefühls zu sein, während ringsum Zerstreuung vorherrscht; inmitten der weit verbreiteten Gleichgültigkeit achtsam präsente Liebende zu sein. Zeugen des Mitgefühls: Ohne Mitgefühl können wir niemals Gutes tun.“

 

Verzichten, um zu wachsen

Helfen wir uns gegenseitig auf diesem Weg: Verzicht ist innere Kraft und Chance. Verzicht ist Entscheidung und Entschiedenheit. Verzicht ist nicht Lebensverneinung, sondern Lebensförderung.

Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, ist der Grund unserer Hoffnung.

Ich erbitte für uns alle einen guten, entschiedenen und hoffnungsvollen Weg hin zur Feier der österlichen Tage des Leidens, des Sterbens und der Auferstehung unseres Herrn: Quelle, Mitte und Höhepunkt des Kirchenjahres.

 

Verbunden in IHM

Euer Bischof


+ Ivo Muser