Todos, todos, todos! Eindrucksvoll klangen vor etwas mehr als einem Jahr die Worte des Papstes beim Weltjugendtag in Lissabon. Ich war dabei mit einer kleinen Delegation aus unserer Diözese, inmitten von Hunderttausenden von Jugendlichen. Mit diesen ermutigenden Worten greift der Papst den Auftrag auf, den wir vom auferstandenen Herrn empfangen haben: „Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern…“ (Mt28,19).
Dieser Auftrag steht in der Mitte unserer Pastoraltagung. Vieles und Wertvolles konnten wir gestern in Vorträgen und Workshops lernen. Ein roter Faden zieht sich durch: „klein aber fein- pochi ma buoni“ ist kein christlicher Leitspruch. Der Auftrag des Auferstandenen ist erst dann erfüllt, wenn alle Menschen mit dem Evangelium erreicht sind. Alle Menschen sind von Gott geliebt und gewollt. Zu ihnen sind wir gesandt. Ohne Ausnahme und ohne Reserve, weil Gottes Liebe grenzenlos ist.
Vor einem Jahr, bei der Pastoraltagung 2023 habe ich hier, von diesem Pult aus, eine Vision für das Jahr 2038 vorgestellt. Zwei Aspekte dieser Vision möchte ich heute mit Ihnen und euch vertiefen. Sie tragen die Überschriften: „Wir sind vom Evangelium beseelt“ und „Wir sind gerne Christinnen und Christen“. Diese beiden Punkte sind die Grundlage, auf der alles andere steht. Wo die Freude am Evangelium unser Handeln prägt, da gelingt Verkündigung, da zieht die Botschaft Jesu Kreise, da werden Beziehungen heil, da werden Menschen und Gemeinschaften gesund.
Im Mittelpunkt unserer Vision steht etwas, das man nicht planen oder organisieren kann: die Freude! Man kann sie nicht als Rezept verordnen, denn die Freude an Jesus und seinem Evangelium ist ein Geschenk, sie ist das Geschenk, das Gott uns in Christus gemacht hat, damit wir es anderen weiterschenken.
Die Freude Christi – die frohe Botschaft
Worin liegt dieses Geschenk? Es ist die frohe Botschaft, die Christus uns gebracht hat, mehr noch: die er selbst ist: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 15). Gott ist allen Menschen nahe. Er wirkt als lebensschaffende Kraft in allen Dingen: hier und heute, jederzeit und an jedem Ort. In vielen Facetten hat uns Jesus diese Botschaft übermittelt, die so schlicht und doch so mächtig ist: Gott ist die Liebe! Er wirkt in uns durch seinen Heiligen Geist und wenn wir uns ihm öffnen, wenn die Metánoia, die Umkehr, uns bestimmt, dann ist uns Leben geschenkt, das stärker ist als der Tod.
In Jesus hat diese Liebe Gottes Fleisch und Blut angenommen: das steht auch hinter dem Bekenntnis des Apostels Petrus, das ich als Wahlspruch für mein Bischofsamt ausgesucht habe: „Du bist Christus“! Petrus erkennt, dass in Christus das Gottesreich unter uns angekommen ist. In seinem Tod und in seiner Auferstehung ist der Sieg der Liebe über den Tod unwiderruflich vollzogen. Jeder und jede von uns kann daran teilhaben und selbst ein Kind Gottes, ein Kind der Liebe sein.
Was die Botschaft Christi von anderen Botschaften unterscheidet, ist, dass die Liebe Gottes keine Belohnung, sondern Geschenk ist, in der Sprache der Bibel und der Theologie: Gnade. Die Liebe Gottes steht vor und über allem, sie gilt auch denen, die nach menschlichem Empfinden von der Liebe ausgeschlossen sein müssten. Die Verbrecher, die Sünder, die Versager, die Kleinlichen und die Präpotenten… allen gilt die Zusage der Liebe Gottes, unabhängig von Vorleistungen oder Bedingungen. Diese Bedingungslosigkeit und diese Grenzenlosigkeit sind auch der Stachel der Frohbotschaft: sie schließt jede Form von Berechnung aus, sie ist bedingungslose Gabe, die alle Konventionen von Verdienst und Schuld überwindet. Das ist der Grund, warum Jesus am Kreuz sterben musste und warum die Botschaft Jesu unsere Welt und uns als Kirche zuinnerst herausfordert und zur Umkehr bewegen muss.
Jesus selbst hat diese Herausforderung immer wieder unterstrichen: Gottesreich und Umkehr gehören zusammen! Weil Gottes Liebe grenzenlos ist, fordert sie uns täglich neu heraus, unsere eigene Enge, unser Kalkül, unsere Gewohnheiten und Berechnungen, unsere Sicherheiten und Regeln zu hinterfragen. Jeden Tag ermutigt mich Jesus, ein neuer Mensch zu werden und die Enge meines Herzens zu überwinden. Das betrifft mich als Einzelnen und das betrifft uns gemeinsam, als Kirche, als Familie, als Pfarrgemeinde, als Gruppe oder Bewegung.
Aus Freude Beziehung gestalten
Was ist der Kern der nötigen Umkehr? „Du bist Christus“: dieses Bekenntnis muss im Angesicht jedes Menschen wiederholt werden! „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (vgl. Mt 25,40). Ihr könnt jetzt nach rechts oder nach links, zu den Menschen hier und jetzt an eurer Seite schauen: Du bist Christus: in dir erkenne und begegne ich Gottes Liebe in menschlicher Gestalt. Arme, Kranke, Gefangene, Hungernde und Trauernde – aber auch Reiche, Satte, Glückliche und Zufriedene: jeder und jede ist unwiderruflich hineingenommen in das Geheimnis Christi.
Die Umkehr, die die Liebe von uns fordert, ist eine Umkehr zum Menschen. Nicht zu den Menschen, die wir uns wünschen oder erträumen, sondern zu denen, die jetzt da sind. Diese Umkehr zu den Menschen ist der Auftrag, den Jesus uns anvertraut. Ihm nachfolgen heißt evangelisieren, wie er es getan hat. Jesus hat das Reich Gottes in der Art und Weise verkündet, wie er mit den Menschen in Beziehung getreten ist. Seine Botschaft zeigt sich in der Beziehung! Viel zu oft vergessen wir das in der Seelsorge und bleiben bei den Aufgaben und Projekten hängen, bei den „Sachen, die zu tun sind“. Vergessen wir nie: die erste Verkündigung besteht darin, dass ich Gott, der in meinem Gegenüber bereits da ist, erkenne und seine Liebe annehme. Der gegenwärtige Prozess des Umbruchs, den wir als Kirche erleben, bringt das Risiko mit sich, dass wir diesen wesentlichen Punkt übersehen.
Drei Wegweiser
Ich nenne exemplarisch drei Gefahren und drei Wegweiser, wie wir damit umgehen können.
Erstens: Reduktion auf die Freude. Eines unserer größten Probleme ist heute die Überlastung der Mitarbeitenden. Dies betrifft die Priester ebenso wie die Ehrenamtlichen, die Pfarrer wie die Pastoralteams und Pfarrgemeinderäte. Eine Flut von Aufgaben will erledigt sein, sodass oft kaum Zeit zum Durchatmen bleibt, geschweige denn, sich über innovative Projekte Gedanken zu machen. Oft versuchen wir, das Problem zu lösen, indem wir die Dinge besser organisieren und Abläufe straffen. Das ist gut gemeint und auch richtig. Aber Jesu Botschaft der Liebe lässt sich nicht organisieren und planen, sie braucht Zeit für Beziehungen, für Nähe. Sie passiert gerade im Unvorhergesehenen und Unplanbaren. Wir brauchen heute den Mut zur Reduktion. Es muss nicht alles überall angeboten werden. Auch schöne Traditionen enden irgendwann. Doch wie können wir reduzieren? Entscheidend ist ein klares Wissen, worum es geht. Es geht um die Freude! Die Freude des Evangeliums ist der Kern unseres Tuns. Schauen wir mutig hin: Wo ist in unserem Tun die Freude, die aus der Begegnung mit dem Gott der Liebe kommt und in guten, liebevollen Beziehungen zu den Mitmenschen lebendig ist? Indem wir unsere Kraft und Aufmerksamkeit dorthin lenken, wo die Freude stark ist, stellen wir uns bestmöglich in den Dienst des Evangeliums. Raus aus der Überlastung, hinein in die Freude!
Bei meiner bzw. unserer Reise nach Tansania im vergangenen Juli sagte einer der Bischöfe, denen wir begegnet sind, zu mir: „Wenn ich in Europa bin, habe ich immer den Eindruck, Probleme und Kritik stehen ganz vorne, auch die Kirchenprobleme und die Kirchenkritik. Bei uns steht ganz vorne die Freude am Leben und am Glauben. Und auf diesem Hintergrund müssen wir uns dann auch mit Problemen und Kritik beschäftigen.“
Zweitens: Mut zum Fragment. Oft missglückt die pastorale Beziehung durch einen falsch verstandenen Perfektionismus, durch unnötige Kritik, die die Freude am gemeinsamen Zeugnis der Liebe dämpft. Erinnern wir uns an die Worte des Apostels Paulus im Hohelied der Liebe: Alles ist Stückwerk. Die Perfektion ist uns hier und heute nicht gegeben. Wohl aber die Liebe, die alles vollendet und wertvoll macht. Aus der Herzmitte des Glaubens ist uns der Mut zum Fragment geschenkt. Gott ist im Fragment ganz und gar gegenwärtig, wo wir aus Liebe handeln. Darum dürfen und sollen wir aus der Freude des Evangeliums heraus die kleinen, die graduellen, die unvollkommenen Schritte zulassen. Wir brauchen keine Perfektion zu verlangen – auch nicht von uns selbst. Wie viel Gutes zerstören wir durch exzessive Kritik, durch kleinliche Regeltreue und verbissene Skrupel. Das Fragment, das Unvollkommene und das Kleine haben Platz, ja sind notwendig um der Freude willen. Löscht den Geist der Liebe, die Freude am Evangelium nicht aus, ruft uns der Apostel Paulus an mehreren Stellen in seinen Briefen zu. Bezeugt die Freude des Evangeliums durch die Weite des Herzens. Freut euch an den unvollkommenen Schritten der Menschen. Vertraut auf die verwandelnde Kraft der Liebe!
Drittens: Offen sein für andere. Der Bedeutungsverlust der Kirche in der Gesellschaft bringt die Versuchung mit sich, christliche Identität in Abgrenzung und Polarisierung zu suchen, in der Flucht in eine idealisierte Vergangenheit. Entschieden möchte ich hier entgegenhalten: Heute ist das Reich Gottes nahe, hier und heute ist die Ernte reich und reif! Es gibt für Christen kein „wir gegen die anderen“. Jeder Mensch ist Gottes geliebtes Geschöpf. Wir bringen Gott nicht irgendwo hin, wo er vorher nicht war. Gott ist bereits da in den Menschen. Wir schöpfen unsere Kraft nicht daraus, dass wir uns von anderen abgrenzen, sondern aus der Kraft der Liebe, die alle Grenzen einreißt. Aus der Begegnung mit dem Gott der Liebe entsteht eine Gemeinschaft, die öffnet, die einlädt, die weitet. Diese Öffnung kennt tatsächlich keine Grenze außer jener, die wir Menschen uns selbst setzen, wenn wir kleiner denken, als Gott es uns vormacht.
Das Reich Gottes ist nahe
Das Reich Gottes ist nahe! Der Welt ist diese wunderbare Botschaft geschenkt: Gott führt die Welt in Christus zum Guten. Auch dort wo Armut und Gewalt, Unrecht und Schuld den Blick darauf verstellen, gilt und trägt diese Zusage. Mitten in den gegenwärtigen Umbrüchen ermutigt uns Gott, aus der Freude der Liebe heraus unsere Beziehungen zu gestalten und so seine Liebe zu bezeugen. Aus dieser Mitte heraus werden traditionelle Formen genauso fruchtbar wie innovative Experimente. Was zählt ist, dass Gott uns vor all unserem Tun, vor all unserer Leistung seine Liebe zusagt und schenkt. Es zählt, dass wir dieser seiner Liebe in unseren Beziehungen nachfolgen und sie somit der Welt bezeugen. All unser Tun soll darauf ausgerichtet sein, dass die Frohe Botschaft die Menschen erreicht. Hier ist heute Kreativität und Mut von uns verlangt! Es gilt, all unser Tun daran zu messen, ob die Kraft der Freude es durchdringt. Wenn die Freude des Evangeliums wirkt, dann wird alles neu.
Noch einmal ein Blitzlicht auf die Tansaniareise. Ich fragte eine junge Frau, die zurzeit als Katechistin ausgebildet wird, welchen Wunsch sie mir ins ferne Europa und Südtirol mitgibt. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Freude an Jesus und an dem, was Sie tun“.
„… und immer wieder die Freude“
Heute, am 21. September, begegnet uns auf dem Kalender der Apostel und Evangelist Matthäus. Sein Name ist untrennbar mit dem Matthäusevangelium verbunden. Dieses Evangelium beginnt im ersten Kapitel mit der alten Jesajaverheißung an Josef: „Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns“ (Mt 1,23). Und es endet mit der Zusage des Auferstandenen: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).
Dieser „Gott mit und für uns“, der in Jesus Mensch geworden ist: Das ist das Neue, Entscheidende und Revolutionäre des christlichen Glaubens! Die komplexe Situation, in der wir heute als Kirche stehen, die verschiedenen Veränderungen, die auf der strukturellen Ebene notwendig sind, bergen die Gefahr, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Deswegen ist es wichtig, den Blick zu schärfen für das wirklich Notwendige und den Mut zu entwickeln, das andere auch einmal bleiben zu lassen. Nicht das Außergewöhnliche, sondern das Gewöhnliche, nicht das Außerordentliche, sondern das Ordentliche prägt und verbindet. Überfordern wir uns nicht gegenseitig! Wir alle sind es nicht, die die Kirche oder gar die Welt retten müssten. Das tut ein anderer – und er hat es in seinem Ostersieg bereits getan. Diese österliche Gelassenheit wünsche ich uns allen. Sie tut uns gut und sie ist Ausdruck unseres Glaubens!
Kirche darf sich nicht zu viel mit sich selbst beschäftigen! Kirche hat nicht nur eine horizontale Dimension, sondern zuerst und vor allem eine vertikale. Das erste Kirchenbild des II. Vatikanischen Konzils ist die Kirche als Mysterium, als Sakrament. Sie ist kein Selbstzweck und vor allem ist sie nicht das Ziel unseres Glaubens und unserer Seelsorge. Sie ist „Zeichen und Werkzeug“ im Dienst der Einheit, um es mit dem II. Vatikanischen Konzil zu sagen (LG 1). Die vollkommene Einheit mit Gott und untereinander als Menschen wird uns im Himmel geschenkt werden. Wir dürfen heute eine Vorahnung davon erleben und diese feiern, verkünden und vorbereiten. Die Kirche lebt in diesem Sinn immer im Advent: Das Große, das Entscheidende, das Unverfügbare kommt erst! Es lohnt sich, dass wir uns oft persönlich und in unserem seelsorglichen Bemühen die schlichte, und gleichzeitig so zentrale Frage stellen: Glauben wir wirklich an den Himmel – nicht als eine Metapher, sondern als unsere Sehnsucht, als unser Ziel, als unsere Bestimmung, als unsere Heimat?
Lieber Generalvikar Eugen, liebe Mitbrüder, liebe Ordensleute, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Bereichen der Seelsorge, ich bitte darum, dass wir den Weg gemeinsam weitergehen – unter dem Wort Gottes und auch untereinander verbunden durch einen ehrlichen, offenen und konstruktiven Dialog.
Uns alle – angefangen bei mir selbst – erinnere ich an den Beginn des Apostolischen Schreibens „Evangelii gaudium“ von Papst Franziskus: „Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm retten lassen, sind befreit von der Sünde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude.“
Giulan, De gra, un sentito e cordiale grazie, vergelt´s Gott!