Das Schuljahr neigt sich nun dem Ende zu. Mit einem vollgepackten Koffer reich an Erkenntnissen, Erfahrungen, gemeisterten Herausforderungen, neuen wertvollen Beziehungen, persönlichen Entwicklungen und Reifeprozessen und einer ordentlichen Portion an Sitzungsstress, steht nun der lang ersehnte Sommer vor der Tür. Doch bevor wir uns nun den Urlaubsvorbereitungen widmen, lade ich Sie/euch nun noch zu einer kurzen Reflexion über die Wichtigkeit und das Verständnis von Erziehung aus der Sicht der Lehrperson in unserer sich ständig wandelnden und stets heterogener werdenden Gesellschaft ein. Diese Reflexion hat ihren Ursprung in den bereichernden, inspirierenden Gesprächen, die ich seit Amtsantritt mit vielen Religionslehrpersonen führen durfte.
Wer lehrt und somit auch erzieht, geht mit den intimsten Seiten des Menschen um und übernimmt die Verantwortung dafür, die affektiven Kräfte der eigenen SchülerInnen auf die Fülle ihres Seins zu lenken. Wie der Philosoph Max Scheler (1874 - 1928) in seinen Schriften zur Bildung immer wieder betonte, ist die Praxis der Bildung als ein Weg der Humanisierung, als ein essenzieller Prozess unserer Menschwerdung zu betrachten. Es ist kein einfacher Weg, sondern ein Weg, der Anstrengung, Kompromisse und Opfer erfordert, der die Existenz der Lehrpersonen mit der der SchülerInnen verflechtet und einen Dialogkreis der gegenseitigen Anerkennung und der gegenseitigen Zusammenarbeit fördert. In der Tat ist die Erziehung immer in eine dialogische Beziehung eingeschrieben, in der die Lehrperson zu einem vorbildlichen Modell wird und der/die SchülerIn sich vom lebendigen Zeugnis seines Gegenübers leiten lässt.
Heute, in einem fluiden, heterogenen sozialen Kontext, dem es zunehmend an erzieherischen und existentiellen Bezugspunkten mangelt, wird die Erziehungskunst noch komplexer und sieht sich mit neuen Herausforderungen und Themen konfrontiert. Es werden pädagogische Strategien benötigt, die nicht improvisiert und aus dem Stegreif, sondern gut durchdacht und spezifisch (d.h. ressourcen-, ziel- und lösungsorientiert) sind. Wir müssen uns also wieder auf die Erziehungskunst als ein relationales Mittel besinnen, das die Menschen dazu bringt, die Wahrheit über sich selbst zu entdecken, indem sie sich in einen ständigen Dialog miteinander begeben. Andererseits bedeutet erziehen „herausführen“, wie schon die Etymologie des Begriffes zeigt. Es wird jenes innige Menschsein zum Ausdruck und ans Licht gebracht, das jeder Mensch in den Tiefen seines Selbst bewahrt und das er in seiner Fülle zu offenbaren berufen ist. Aber ein solches ans Licht bringen der Menschlichkeit geschieht nur, wenn der Mensch aus sich selbst herausgeht. Die Begegnung mit dem anderen ruft immer eine Verantwortung hervor, die das Selbst dazu bewegt, die oft unüberwindbaren Grenzen des eigenen Selbst zu überschreiten, um sich dem Geheimnis des anderen zu öffnen.
Deshalb ist die Praxis der Erziehung immer ein Weg des Dialogs und der Konfrontation, der auch von Missverständnissen und Schwierigkeiten geprägt ist, aber letztlich den Menschen in seiner eigentlichen Berufung zur Liebe zu entfalten vermag. In diesem Sinne darf Bildung nicht als bloße Belehrung, als trockene Übermittlung von Inhalten und Begriffen verstanden werden (umso mehr in einem digitalisierten Kontext, in dem bloße Daten über das Verständnis der Wirklichkeit per Mausklick schnell zugänglich sind). Ihre Aufgabe besteht also darin, das Menschliche aufzubauen, Ökosysteme der Nächstenliebe zu fördern, um dem Dasein eines jeden in der Welt einen Sinn zu geben und jeden zu einem existenziell erfüllten und deshalb glücklichen Leben zu befähigen. Erziehung und Bildung stellen heute, in einem von Verschlossenheit, Armut und manipulativen Versuchungen (auch vermittelt durch den willkürlichen Einsatz digitaler Technologien) geprägten Kontext, nicht nur eine unverzichtbare Verantwortung gegenüber den neuen Generationen dar, sondern auch einen unvergleichlichen Weg, das Menschliche zu sich selbst zurückzuführen, Frieden zu schaffen und die intimste Berufung jedes einzelnen Menschen zu verwirklichen.
In einer Welt, die sich ständig verändert und von zahlreichen Krisen durchzogen ist, die dem Menschen zuzuschreiben sind (wirtschaftlich, erzieherisch, affektiv), ist es daher notwendig, einen gemeinsamen Bildungsweg zu entwickeln, der den Wert des Menschen in der Fähigkeit zu unterstützen weiß, mit anderen in Beziehung zu treten, was als Verwirklichung des höchsten persönlichen Potenzials gesehen werden kann. In diesem Sinne ist die Mahnung des Philosophen Jacques Maritain (1882-1973) auch heute berechtigt, der unter Hinweis auf die Notwendigkeit eines „integralen Humanismus“ vorschlägt, den Menschen gleichzeitig als materielle und geistige Realität zu betrachten, die es versteht, Herz, Verstand und Hände zusammenwirken zu lassen: das Herz als Sitz des Gefühlslebens, den Verstand als Fähigkeit zum rationalen Verstehen der Wirklichkeit und die Hände als Symbol einer konkreten Operativität existentieller Entfaltung. Aus dieser Perspektive bildet sich der Mensch in dem Maße, in dem er seine Menschlichkeit als ziviles Engagement, als soziale Verantwortung gegenüber sich selbst und anderen zum Ausdruck bringt und so zum Aufbau einer Gesellschaft der Gerechtigkeit und des Friedens beiträgt.
Bildung ist heute also ein Akt der Verantwortung, aber auch ein Akt der Liebe: Bildung befreit den Menschen von der Versuchung, in sich selbst verschlossen zu bleiben, indem sie ihn für die Dynamik des Dienstes und der Solidarität öffnet, insbesondere gegenüber all denen, die von der gegenwärtigen Konsumgesellschaft ausgegrenzt werden.
Bildung ist letztlich ein Akt der Hoffnung dem Menschen gegenüber: Sie durchbricht den Kreislauf des weit verbreiteten Pessimismus, indem sie stattdessen Wege der Offenheit und der Humanisierung aufzeigt. Durch die Bildung kann die Menschheit entdecken, dass sie fähig ist, zu lieben, das heißt, dass sie fähig ist, die Schranken eines so-lip-sis-tischen Daseins zu durchbrechen. Durch sie kann jeder Mensch zu sich selbst finden, sein innerstes Glück verwirklichen und ganz er selbst werden.
In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich für Ihren/euren wichtigen, wertvollen und einzigartigen Dienst im Bildungskontext der Schule.
Ein großes Vergelt’s Gott mit den besten Wünschen zum Schuljahresende und zu den bald anstehenden Sommerferien!